Frank A. Meyer
Komplizen

Publiziert: 07.08.2016 um 12:05 Uhr
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Aktualisiert: 11.09.2018 um 05:35 Uhr
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Frank A. MeyerPublizist

Stellen wir uns vor, eine führende Politikerin fordert, Frauen nur noch das halbe Stimm- und Wahlrecht zu geben, frisch eingebürgerten Schweizern nur noch eine Dreiviertelstimme, das volle Stimm- und Wahlrecht dagegen ausschliesslich Männern mit Schweizer Stammbaum.

Eine solche Forderung ist natürlich völlig unvorstellbar.

Wenn nun aber die führende Politikerin ihre völlig unvorstellbare Forderung tatsächlich erheben würde, öffentlich sogar? Was geschähe dann? Ein Sturm der Entrüstung, ein Shitstorm wäre die Folge, in der Politik, in den Medien, vor allem natürlich im feministisch und multikulturell gestimmten linksbürgerlichen Milieu.

Jacqueline Fehr, sozialdemokratische Justizdirektorin von Zürich, hat sich vor einigen Wochen solchen Gedanken hingegeben, zunächst auf Facebook, dann in der Presse: 18- bis 40-Jährige sollen bei Abstimmungen und Wahlen zwei Stimmen erhalten, 40- bis 65-Jährige anderthalb und über 65-Jährige eine Stimme, so forderte sie.

Es ist eine Rechnung der Entrechtung: der älteren Generation nur noch das halbe Stimm- und Wahlrecht, der mittleren Generation nur noch drei Viertel Stimm- und Wahlrecht, volles Stimm- und Wahlrecht dagegen ausschliesslich für die junge Generation.

Was ist es, das Jacqueline Fehr da vorschlägt?

Es ist die Abschaffung der Gleichheit der Bürger!

Es ist die Abschaffung der Demokratie!

«One man, one vote» – ein Bürger, eine Stimme: So lautet die Formel des demokratischen Gleichheitsprinzips, das jeder Demokratie zugrunde liegt. Diskriminierung nach Geschlecht, Rasse, Religion, Einkommen, Herkommen – oder eben nach Alter? Ausgeschlossen. Absolut undenkbar.

Alter ist ein körperliches Merkmal: Der Vorschlag von Jacqueline Fehr fällt deshalb unter den Begriff Rassismus – Altersrassismus.

Bis zu dem Tag, als Jaqueline Fehr ihre Idee lancierte, gehörten vergleichbare Forderungen zum ideologischen Waffenarsenal des Neoliberalismus, also der rechtesten Lehrmeinung der Na­tionalökonomie. Friedrich August von Hayek (1899–1992), Papst aller Marktradikalen, forderte beispielsweise, dass ausschliesslich die Reichen selbst bestimmen sollten, was sie dem Staat an Steuern zahlen. Auch müsse allen Bürgern, die Geld vom Staat erhalten, das Wahlrecht entzogen werden. Beamte und Sozialhilfeempfänger wären damit politisch rechtlos. 

Hayeks Wahlrecht ist ein Klassen-Wahlrecht – Jacqueline Fehrs Wahlrecht ein Altersklassen-Wahlrecht.

Die Diskussion über die Abschaffung der Demokratie durch Abschaffung des gleichen Wahlrechts für alle fand bisher ausschliesslich in markt- und rechtsradikalen Kreisen statt – was unter anderem deren antidemokratische Gemeinsamkeit offenlegt.

In der Schweiz ventilierte der Thinktank Avenir Suisse vor kurzem die Idee, Kindern ein Stimmrecht zu geben. Eine Zwei-Kind-Familie bekäme dadurch doppelt so viele Stimmen wie ein kinder­loses Paar. Die rechten Ideologen der Wirtschaftsorganisation argumentieren, Senioren hätten aufgrund ihrer zunehmenden Zahl zu viel politisches Gewicht. Dies führe zu einer Herrschaft der Alten, zur «Gerontokratie».

Das Gegenrezept von Avenir Suisse: Abschaffung der Demokratie!

Jacqueline Fehrs Drei-Altersklassen-Wahlrecht läuft auf dasselbe hinaus. Die geistige Nähe der Zürcher Linken zu den marktradikalen Rechten ist offensichtlich. Doch es gibt weitere verblüffende Geistesverwandtschaften: Die neue Rechtsaussenpartei Alternative für Deutschland (AfD) stimmt ebenso locker den Abgesang auf die Gleichheit aller Bürgerinnen und Bürger an: «Ob das allgemeine Wahlrecht ein Fortschritt war, kann man mit einigem Recht bezweifeln», so der AfD-Mitbegründer Konrad Adam.

Der Zürcher Sozialdemokratin wachsen interessante Komplizen zu.

Doch ist Jacqueline Fehr eigentlich noch eine Sozialdemokratin? Kann eine Politikerin, die das allgemeine Wahlrecht in Frage stellt, überhaupt eine Linke sein?

Wer das Grundprinzip der Demokratie zur Disposition stellt, ist eines mit Sicherheit nicht: Demokrat.

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