Frank A. Meyer
Kanton Schweiz

Publiziert: 30.07.2017 um 12:05 Uhr
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Aktualisiert: 12.09.2018 um 01:55 Uhr
Frank A. Meyer, Kolumnist.

Da wird nun also eifrig gewogen, erwogen und abgewogen, ob das Tessin dringend, unbedingt oder gar auf Teufel komm raus einen Bundesrat haben müsse. Nach der Rücktrittserklärung des Neuenburgers ­Didier Burkhalter konnte man allenthalben hören und lesen, dass ja auch andere Kantone seit langem darauf warten, endlich in der Landesregierung vertreten zu sein.

Warum also gerade der Kanton Tessin? Weil er mit seiner rot-blauen Flagge im vorliegenden Fall nicht einfach als Kanton zu betrachten ist. Sondern? Als schweizerischer Kulturraum mit ­eigener Sprache; als Südschweiz, was die Bedeutung des Tessins präzis auf den Punkt bringt: als Schweiz – des Südens.

Ja, nichts weniger verkörpert das Tessin: die Schweiz auf Italienisch – und zwar nicht die kleine Schweiz neben den grossen Schweizen, nein, in der staatspolitischen Bedeutung eins zu eins zu eins vergleichbar mit der französischen Schweiz und der deutschen Schweiz.

Ohne das Tessin wäre die Schweiz nicht die Schweiz. Also wäre sie nicht.

Kein anderer Kanton erfüllt diese ­Voraussetzung: Kanton sein und zugleich Schweiz.

Der schweizerische Bundesrat ist ein Kollegium der Kompetenzen und der Überzeugungen. Er ist aber auch ein Kollegium der Sensibilitäten, der kulturellen Verwurzelungen und Zugehörigkeiten. Diese «Herkünfte» spielen eine wesentliche Rolle in der kollegialen Debatte, manchmal sogar eine grössere Rolle als die politische Überzeugung.

Was würde ein Tessiner an besonderer Sensibilität einbringen in diese Regierung? Nichttessiner können die Antwort bestenfalls erahnen.

Dass ein Tessiner mit ganz eigenem Temperament auftritt, ist bekannt und wird geschätzt. Dass er auf dialektische Weise die Italianità, zu der er seit Genera­tionen eine kritische Distanz pflegt, ins Schweizerische übersetzt, gehört ebenfalls zu den Tessiner Eigenheiten, man könnte auch sagen: zu den Qualitäten. Die Schweiz versteht Italien besser, wenn sie der Tessiner Schweiz zuhört.

Das aber ist von erheblicher Bedeutung: Vor der Tessiner Grenze erstreckt sich bis über Mailand hinaus die Lombardei – mit acht Millionen Menschen der grösste urbane Raum Europas und deshalb nicht zu vergleichen mit den Grenzräumen jenseits von Genf, Basel oder des Bodensees.

Italien ist nicht nur Gründernation der Europäischen Union, es ist auch heute, bei allen politischen und ökonomischen Kaprizen, eine der kreativsten Nationen des Kontinents, in ständiger Veränderung begriffen – ein überaus lebendiger Nachbar der Schweiz.

Das Tessin wiederum ist der Kulturraum, der diesem Raum am nächsten steht: den italienischen Regeln und Riten, vor ­allem seiner Sprache, die ahnungslose Schweizer Diplomaten in Verhandlungen mit italienischen Kollegen auch schon mal durch Englisch ersetzen wollten – ein Fauxpas sondergleichen! Keinem Tessiner wäre dergleichen je passiert.

Dante Alighieri und Alessandro Manzoni gehören ebenso zum helvetischen Kulturgut wie Johann Wolfgang von Goethe, Thomas Mann, Molière oder Gustave Flaubert.

Weil natürlich auch diese Einsicht noch nicht genügt, um einen Tessiner in den Bundesrat zu wählen, sei hier einfach der poli­tische Vorteil einer solchen Wahl erläutert: Die Schweiz ist die Wasserscheide West­europas – Rhein, Rhône und Ticino. Die Schweiz ist ebenso die sprachkulturelle Schnittstelle Westeuropas – Deutsch, Französisch, Italienisch.

Die Schweiz ist Europa!

Europa aber ist in Bewegung, nicht allein das Frankreich des Emmanuel Macron. Auch das Österreich eines Sebastian Kurz. Italien hat sich bereits mit Matteo Renzi eingebracht in die Veränderungen der Europäischen Union und wird sich dort erneut einbringen. Die Nachbarn im Norden, Westen und eben auch im Süden bleiben wichtig und werden noch wichtiger für Wohl und Wehe der Schweiz – die Europa ist, ohne es sein zu wollen.

Mit Blick auf die Zukunft ist ein Tessiner Bundesrat deshalb nicht allein von kantonaler, sondern auch von Schweizer Bedeutung.

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