Eric Gujer, frisch gekürter Chefredaktor der «Neuen Zürcher Zeitung» (NZZ), ist ein feiner Denker, ein bürgerlicher Intellektueller, der das Schreibhandwerk mit Lust betreibt: stets mit spitzer Feder, gern auch herablassend, stolz vom hohen Ross – etwa wenn er sich zur Europäischen Union äussert. Wobei sich sein Reittier trotz aller Schreibkunst auch schon mal als Holzpferdchen aus dem Schweizer Kinderzimmer entpuppt.
Aber man mag Eric Gujer lesen; seinem Gedankenfluss folgt man mit Gewinn – eine gute Wahl für die Zeitung wie für die Schweiz.
Eine sensationell gute Wahl sogar, bedenkt man, dass das NZZ-Management einen Eiferer aus dem Umfeld des helvetischen Populistenführers auf den Chefposten berufen wollte. Redaktion und Leserschaft begehrten auf.
Das Resultat der Revolte: Es kommt ein Herr, kein Knecht.
In einem Interview mit dem Zürcher «Tages-Anzeiger» definiert Gujer den Standort seines Blattes: «Für uns bei der NZZ haben Etiketten wie rechtsbürgerlich oder linksfreisinnig keine Bedeutung. Wir sind kein Parteiblatt, und ich bin kein Bindestrich-Liberaler.»
Schön gesagt, wahrlich.
Doch dann sagt Gujer noch die zwei Sätzchen: «Wir sind ordoliberal. Sie könnten auch neoliberal sagen.»
Abgesehen davon, dass sich der Freiburger Ordoliberalismus und der Chicagoer Neoliberalismus, bei Lichte besehen, deutlich unterscheiden, ist das saloppe Bekenntnis ein amüsanter Widerspruch.
Ordo-Liberalismus und Neo-Liberalismus machen den neuen NZZ-Chef nämlich just zu dem, was er nicht sein will: zum «Bindestrich- Liberalen».
Und anders als die Adjekive rechtsbürgerlich oder linksfreisinnig, die den Liberalismus-Begriff ja erweitern, ist Ordo- oder Neoliberalismus eine Verengung der freisinnigen Philosophie: die Zurichtung zur Heilsbotschaft, nach der allein das möglichst ungezügelte Walten der Wirtschaft das Wohl der Welt zu bestimmen vermöge.
Das aber meinen Religionen immer, auch säkulare: Sie allein kennen den archimedischen Punkt – das Wirkungsprinzip – der Geschichte. Der Marxismus hats vorgemacht: Alles Staat! Der Neoliberalismus machts nach: Alles privat!
Marktismus statt Marxismus!
Was sich ändert, ist der Gott, was gleich bleibt, ist der Glaube.
Wie die Verengung des liberalen Denkens den Journalisten die Feder führen kann, ist in der «Neuen Zürcher Zeitung» von gestern nachzulesen. Da lässt sich ein eminenter Redaktor über die Frauenquote aus, die der Bundesrat Verwaltungsräten und Geschäftsführungen vorzuschreiben gedenkt: «Ein solcher Staatseingriff in der Anstellungspolitik der Unternehmen ist mit liberalen Grundsätzen nicht zu vereinen – völlig unabhängig davon, ob es um Quoten nach Geschlecht, Alter, Haarfarbe, Körpergrösse, Augenfarbe, sexueller Orientierung oder was auch immer geht.»
So sieht sie aus, die neoliberale Rechtgläubigkeit: Gesetzliche Förderung der Frau wird gleichgesetzt mit Quoten für «was auch immer». Die Frau als «was auch immer». Die Frauenquote ist nichts weiter als eine Quote für «Haarfarbe, Körpergrösse, Augenfarbe». Die Frau als Dingsda.
Ja, der Strenggläubige wird rasch blind. Auch für den Anstand.
Der Bindestrich-Liberalismus verliert alle Liberalität, sobald die Macht der Wirtschaft beschnitten werden soll, sobald die Wirtschaft gestaltet werden muss, sobald die Politik die Wirtschaft dem gesellschaftlichen Ganzen dienlich machen will.
Dieser Neo-Reflex freilich ist das Gegenteil von Liberalismus: von Freisinn. Was ja der begeisternde, der revolutionäre Begriff für alles freie und sinnliche und weite Denken wäre.