Frank A. Meyer
Helden

Publiziert: 26.03.2017 um 10:24 Uhr
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Aktualisiert: 01.10.2018 um 03:00 Uhr
Frank A. Meyer
Frank A. Meyer
Foto: Antje Berghäuser

Der Chefredaktor der «Neuen Zürcher Zeitung» hält die Schweiz für reformunfähig. Wähler und Gewählte, klagt Eric Gujer bitterlich, versagten punkto Wettbewerbsfähigkeit, Sicherung der Altersvorsorge, Energieversorgung. «In allen diesen Fragen erwecken Volk, Parlament und Bundesrat jedoch nicht unbedingt den Eindruck, als seien sie sich der Tragweite ihrer Entscheidungen bewusst.»

Wer aber erkennt «die Tragweite der Entscheidungen»? Wer verfügt über den dazu nötigen zukunftsgerichteten Blick?

Eric Gujer.

Einsam – man muss es mitfühlend feststellen – blickt er auf ein Land, dessen Elend das Herz erbarmt. Finster entschlossen formuliert er seine Klage: «So lässt sich Zukunft nicht gestalten.» Fast möchte man glauben, Gujer ist zu allem bereit.

Gabs nicht genauso einen schon 1386 in der Schlacht bei Sempach? «Eidgenossen, ich will euch eine Gasse bahnen, sorget für mein Weib und meine Kinder.» In der Tat, die Schweiz braucht einen neuen Arnold von Winkelried.

Und weil die Schlachten der Demokratie nun mal medial geschlagen werden, taugt der kämpferische NZZ-Chef für die Besetzung der Heldenrolle wie kein Zweiter.

Wer aber für die Zukunft schreibt, der bedarf des lernenden und lehrenden Wissens aus der Vergangenheit. Eric Gujer findet sie im Wirken des früheren deutschen Bundeskanzlers Gerhard Schröder. Der niedersächsische Sozialdemokrat – einsam auch er – bahnte seinem Land mitten in Malaise und Misere eine Gasse.

Gujer blickt auf jene grosse Tat zurück: «Die europäische Nachbarschaft ist voll von Beispielen des schleichenden Abstiegs, und nur selten gelingt wie in Deutschland mit Gerhard Schröders ‹Agenda 2010› die Kehrtwende.»

Es ist nicht das erste Mal, dass die NZZ den Sozialdemokraten als leuchtendes Beispiel für vorausschauende Politik aufs Panier hebt. Am 4. März beherrschte der Genosse bereits eine ganze Seite, mit Bild, Titel und Untertitel: «Erinnerungen an ein mutiges Deutschland – Statt Schröders Arbeitsmarktreformen zu vertiefen, wettern die Sozialdemokraten heute gegen den ‹neoliberalen Mainstream›.»

Der Schweizer Politik mit pädagogischen Verweisen auf die jüngere Geschichte Orientierung geben! Das ist weiss Gott verdienstvoll. Und dann erst noch durch Lobpreisung eines Linken.

Freilich, auch die NZZ selbst ist bei diesem Thema mit der eigenen Geschichte verbunden, wenn nicht gar darin verstrickt: 2005 bekämpfte sie, in Deutschland nicht ungehört, die Wiederwahl ihres heutigen Helden Schröder mit allen Mitteln des Miesmachens. Man muss zitieren, was damals zu lesen war: Zum Beispiel funktioniere «das rot-grüne Reformwerk nicht einmal mit gigantischem Pump».

Zum Beispiel akzeptiere, «wer von Schröderschen Reformen spricht (...), dass primär mit ungedeckten Milliardensummen hantiert wird».

Zum Beispiel, «dass Schröder dort am meisten versagte, wo er sich am meisten vorgenommen hatte: bei der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit».

Zum Beispiel: «Die gewichtigsten Versäumnisse liegen (...) im grössten Problembereich, dem Arbeitsmarkt.»

Zum Beispiel müsse den Deutschen «langfristige Besserung ihrer Situation» in Aussicht gestellt werden: «Rot-Grün hat das nicht geschafft.»

Was die NZZ heute dem reformmüden Schweizervolk, seinem Parlament und seiner Regierung als Vorbild für echte Reformpolitik um die Ohren schlägt, es war noch 2005 für dieselbe NZZ des Teufels.

Sogar die Weigerung des SPD-Kanzlers, mit den USA in den Irakkrieg zu ziehen, musste als «Sündenfall» gegeisselt werden: «Schröders und Chiracs Egotrips» hätten «einer gemeinsamen europäischen Aussenpolitik den Todesstoss versetzt».

Weltweit gilt Schröders Nein zum desaströsesten Abenteuer der Amtszeit von George W. Bush inzwischen als Beispiel für verantwortungsvolles politisches Handeln.

Ist dem Schröder-Bashing durch eine Zeitung, die ihn jetzt als nachahmenswerten Helden mit Lob überhäuft, noch etwas hinzuzufügen? Ja: Das Zürcher Weltblatt giftete damals nicht allein. Es sang seine bösen Lieder im Chor mit der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung», mit «Welt» und «Bild», mit «Stern» und «Spiegel».

Schröder musste weg, weg, weg!

Heute stimmen die publizistischen Polemiker von einst ohn’ Unterlass das Loblied seiner «Agenda 2010» an. Und die NZZ singt erneut im Chor – mit derselben Besetzung.

Die NZZ hält der Schweiz den Spiegel vor. Schaut sie auch selbst mal in den Spiegel?

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