Guy Parmelin will sein Nachrichtendienstgesetz mit einer «pädagogischen Kampagne» durchsetzen. Wüsste man es nicht bereits, es wäre damit offenkundig: Der Bundesrat ist ein waschechter Waadtländer, geprägt vom letzten Obrigkeitsstaat der Schweiz. Da erzieht man noch das Volk.
Die Schweizerinnen und Schweizer benötigen aber keine Erziehung, um ein Gesetz zu beurteilen, das dem Geheimdienst den Kampf gegen Spionage, Terrorismus und Cyberattacken erleichtern soll.
Wahrscheinlich brauchen die Nachrichtendienste diese Paragrafen tatsächlich. Wahrscheinlich sind die eingebauten Kontrollen genügend. Wahrscheinlich führt das neue Gesetz nicht noch einmal zu einem Schnüffelstaat Schweiz.
Alles allerdings nur wahrscheinlich – aber nicht sehr wahrscheinlich.
Geheimdienstchef Markus Seiler wirbt mit einem Flyer für Vertrauen in das Gesetz, das ihm und seiner Truppe zusätzliche Eingriffe in die Privatsphäre ermöglichen soll. Vertrauen in Paragrafenwerke ist eine vertrackte Sache: Das Gesetz ist das Gesetz. Doch vertraut man auch den Leuten, die das Nachrichtendienstgesetz anwenden? Wer sind sie?
Wer sind die Seilers?
Beflissene Beamte sind es, fürsorgliche Familienväter, liebevolle Mütter, treue Freunde, beseelte Juristinnen, redliche Polizisten. Also verdienen sie das Vertrauen des Volkes.
Oder etwa nicht?
Zum Wesen des demokratischen Rechtsstaates gehört Vertrauen nur sehr bedingt. Historisch ist er vielmehr geboren aus dem Misstrauen gegenüber der Staatsgewalt. Diesem Misstrauen verdanken wir Montesquieus freiheitliches Staatsmodell der Gewaltenteilung.
Kontrolle der Regierung durch das Parlament, Kontrolle des Parlaments durch die Wähler – verfassungsmässig institutionalisiertes Misstrauen bildet die Hefe, welche die Demokratie aufgehen lässt.
Wer aber verdient mehr Misstrauen als alle anderen staatlichen Institutionen?
Die Geheimdienste!
Sie sind der Demokratie wesensfremd, wenngleich notwendig – und gerade durch diesen Widerspruch mit grösstem Misstrauen zu betrachten.
Ja, Markus Seiler verdient in seiner Funktion als Geheimdienstchef – Misstrauen.
Geheimdienste sind Dunkelkammern. Wer im Schattenreich geheimer Nachrichtenbeschaffung Dienst tut, in der Grauzone globalen Gebens und Nehmens privater Daten, in der Finsternis der Verdächtigung und Verfolgung, der wähnt sich rasch in einer Welt voller Feinde, vom vermuteten Terroristen bis zum kontrollierenden Parlamentarier – und zum kritischen Journalisten.
Paranoia ist die Berufskrankheit der Schnüffler – überall auf der Welt, in jedem System.
Die Schweiz hat es erlebt, als im Kalten Krieg nahezu eine Million Bürgerinnen und Bürger durch den Staatsschutz als verdächtig eingestuft und in Fichen erfasst wurden. Alles gabs, was jetzt durch das neue Gesetz erlaubt sein soll: Telefon abhören, Wohnungen verwanzen, Postgeheimnis verletzen, kritische Köpfe bespitzeln.
Der Staatsschutz war die Stasi der Schweiz.
Wie lässt sich eine Wiederholung verhindern, in einer Zeit, in der so viele echte Gefahren dem Geheimdienst so viele Argumente für so viel aussergewöhnliches Agieren liefern? Wie vermeidet der demokratische Rechtsstaat, dass seine Beschützer ihn beschädigen? Wie beugt er vor?
Das Diplomatengeschäft kennt eine beispielhafte Regel: Botschafter auswechseln, bevor sie sich allzu sehr mit dem Land eingelassen haben, in das sie entsandt worden sind. Das wäre auch eine Möglichkeit für die obersten Chargen des Geheimdienstes: Beschränkung der Amtszeit.
Oder man geht mit dem Problem um wie meistens: Warten auf den Skandal.