Ganz selten ist man als Journalist gezwungen, sich selbst zu zitieren. Am 5. November vergangenen Jahres schrieb ich an dieser Stelle, die «Neue Zürcher Zeitung» (NZZ) gehöre zum «Tafelsilber der Demokratie», und zwar gemeinsam mit der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft (SRG). Mein Fazit damals: «NZZ und SRG sind journalistische Schweizer Qualität.»
Inzwischen hat der Chefredaktor der NZZ, Eric Gujer, einen stimmungsvollen Leitartikel gegen die SRG verfasst: Sie sei ein «Dinosaurier», der «jeden Tag verkündet, die Evolution gebe es nicht», weshalb eben jener Dinosaurier uns einzureden versuche, «Dinosaurier lebten ewig und kleine, flinke Säugetiere hätten nie eine Chance».
Es brauche, so Gujer weiter, «keinen Staatsfunk, um in jedem Haushalt die ‹richtige› Nachrichtenquelle sicherzustellen. Schliesslich legt die Regierung auch nicht das ‹richtige› Abstimmungsergebnis fest».
Nur schwer erschliesst sich dem Leser, was das alles miteinander zu tun haben soll: die Dinosaurier, die nicht sterben dürfen, und die SRG, die etwas nicht tun darf, was die Regierung «schliesslich» auch nicht tut ... Irgendwie verwirrlich. Aber Eric Gujer will damit offenbar Folgendes belegen: «Die Behauptung, nur ein öffentlich-rechtlicher Sender könne die sozialen Schichten, Regionen und Sprachen verbinden, ist so vermessen wie totalitär.»
Da ist es, das grosse Wort: «totalitär». Die Bürgerinnen und Bürger, die sich für ihr Radio und Fernsehen einsetzen, handeln demnach: «totalitär»!
Damit erledigt sich Gujers Anti-SRG-Fatwa eigentlich von selbst: Sie ist stilistisch wie argumentativ unter der Würde des NZZ-Chefredaktors, der – es sei hier ausdrücklich wiederholt – mitsamt seiner Zeitung zum Tafelsilber der Schweizer Demokratie gehört.
Ja, Eric Gujer ist überaus gescheit. Wer dies bezweifelt, der schalte beispielsweise das Schweizer Fernsehen ein, wenn an einem Sonntagmittag die «NZZ-Standpunkte» ausgestrahlt werden. Da moderiert der mächtige Mann von der Zürcher Falkenstrasse eine bemerkenswerte Sendung. Er wirkt dabei stets ein wenig steif, auch etwas gespreizt – moderieren ist nun mal nicht sein Talent. Doch die «NZZ-Standpunkte» sind ein Stück TV-Journalismus comme il faut, weil spannend für jeden intellektuell neugierigen Zeitgenossen.
Wer Eric Gujer auf SRG verpasst hat, kann es auch auf 3sat versuchen. Der Gemeinschaftskanal von SRG, ORF und ARD sendet die «NZZ-Standpunkte» ebenfalls.
Der erklärte Feind der SRG, für den öffentlich-rechtliche Sender ganz grundsätzlich des Teufels sind, lässt seine eigene Sendung von öffentlich-rechtlichen Sendern verbreiten?
So ist das. Gottlob.
Wer sonst würde ein Gespräch von Niveau, das über 45 Minuten geht, also eine nach iPhone-Kriterien langweilige, da anspruchsvolle und deshalb überaus wertvolle Sendung ausstrahlen, wenn nicht SRG, ORF oder ARD, wenn nicht öffentlich-rechtlich installierte Sendeanstalten?
Wer mit der Fernbedienung durch die seichten Gewässer privater TV-Stationen navigiert, kennt die Antwort: Keiner dieser Zappelsender wäre dazu bereit.
Damit bleibt nur ein Rätsel: Warum redet ein so intelligenter Journalist wie Eric Gujer so unintelligent daher? Könnte es daran liegen, dass er – nach eigenem Bekunden – der neoliberalen Lehre anhängt?
Manches deutet darauf hin. Zum Beispiel die Dinosaurier-Metapher, die zum Vulgärdarwinismus des Marktglaubens passt, nach dessen Lehre alles ausstirbt, was sich im Markt nicht durchsetzt – und wonach alles dem Markt ausgesetzt werden muss, was staatliche Zuwendung oder gar staatlichen Schutz geniesst, insbesondere die SRG mit ihren Konzessionsgeldern.
Der Glaube an den Markt sowie an dessen «unsichtbare Hand», die mit göttlicher Vorsehung schaltet und waltet, ist eine moderne, wenngleich ausserordentlich weltliche Religion, bei deren Anhängern durchaus das Denkvermögen Schaden nehmen kann, wenn sie – wie Eric Gujer zum Thema SRG – gerade mal wieder dabei sind, herunterzubeten, was ihnen ihr Katechismus vorschreibt.
Die SRG aber ist eine Sache der Vernunft.