Richard David Precht, Publizist und Philosoph, liess die von Wladimir Putin überfallenen Menschen jüngst seiner Weisheit teilhaftig werden: «Natürlich hat die Ukraine ein Recht auf Selbstverteidigung, aber auch die Pflicht zur Klugheit, einzusehen, wann man sich ergeben muss.»
Wie hoch muss einer sitzen, um den Kämpfern von Mariupol, Butscha oder Kiew den Segen für ihre «Selbstverteidigung» zu erteilen? Wolodimir Selenski wird sich in seinem Widerstandsgeist bestätigt, wenn nicht geschmeichelt fühlen: Ein westlicher Geistesriese steht ihm zur Seite!
Der zweite Teil der Precht’schen Weisheit ist allerdings geeignet, den Ukraine-Präsidenten sogleich in tiefe Zweifel zu stürzen, hält ihm der Philosoph doch den Mahnfinger vor die Nase, wenn er fordert: «die Pflicht zur Klugheit, einzusehen, wann man sich ergeben muss».
Prechts «Pflicht zur Klugheit» würde bedeuten, möglichst rasch vor dem Grossverbrecher im Kreml zu kapitulieren.
Wie muss einer ticken, um einer Nation, die seit mehr als zwei Monaten täglich unter Raketenbeschuss für ihre Freiheit kämpft, zur Kapitulation zu raten? Einem Volk, das Alte, Frauen und Kinder begraben muss, deren Schicksal es war, in den Strassen ihrer Stadt, ihres Dorfes auf russische Soldateska zu stossen?
Was wären die Folgen dieser Schulmeisterei?
Es wäre die Auslöschung jeder Spur von Selbstachtung; es wäre die Auslöschung von Demokratie und Rechtsstaat; es wäre die Auslöschung Tausender freiheitsliebender Menschen; es wäre die Auslöschung der Ukraine.
Es wäre der Triumph Putins!
Will Richard David Precht das? Natürlich nicht! Die Kapitulation der Ukraine soll aus seiner Sicht lediglich die Eindämmung der russischen Aggression zur Folge haben: durch Verhandlungen, durch Absprachen, durch Garantien, durch Verträge – durch den Beistand des Westens.
Doch leider hat ja genau das nicht funktioniert, war ja genau das die deutsche Politik gegenüber Putins Verletzungen des Völkerrechts – eine gescheiterte Politik der Weltbefriedung, von Georgien über Abchasien und Südossetien bis zur Krim, bis zum Krieg jetzt.
Vom universitären Katheder herab, aus den Sesseln der Talkshows, in den Spalten der Presse, auf den Portalen der sozialen Medien: Immer kommt aus Deutschland Welterziehung – ganz aktuell Erziehung zum korrekten Umgang mit der Ukraine. In der Tageszeitung «Die Welt» belehrt Thomas Schmid, ein kluger Kopf wie Richard David Precht, die Leserschaft über den richtigen Umgang mit der Nation im Überlebenskampf: «Bewunderung ja, Verklärung nein.»
Ist dies die Zeit für Belehrung? Für intellektuelles Tiefschürfen? Für süffisantes Besserwissen?
In der Ukraine ist dies die Zeit von Tod oder Leben. Wäre den beredten Denkern da nicht Bescheidenheit geboten, Demut gar?
Schweigen?
Richard David Precht wurde mit einem zauberhaften Buch berühmt, einer «philosophischen Reise». Der wunderliche Titel des Werks: «Wer bin ich – und wenn ja, wie viele?» Auch der Autor selbst ist «viele».
Unter diesen vielen findet sich – leider, leider – auch ein selbstgefälliger Schwätzer.