Was hat sich Ignazio Cassis bloss gedacht, als er Anfang September bei einer FDP-Wahlveranstaltung in die Runde rief: «Ich lese keine Zeitungen mehr.» Und zur Begründung hinzufügte: «Sie sind nicht gut für mich.»
Der «Tages-Anzeiger» vermeldete die Medienschelte des Aussenministers stante pede: «Sein Heimatkanton ist konsterniert.»
Konsternation? Fassungslosigkeit? Weil ein Bundesrat «gegen die Medien wettert», wie das Zürcher Blatt aufgeregt berichtete?
So ist es. Medien geniessen Unantastbarkeit, zumal durch Politiker, die es sich auf keinen Fall mit den Meinungsmachern verscherzen möchten, am allerwenigsten vor den Wahlen, also gerade jetzt.
Ignazio Cassis ist ein mutiger Mann. Hat er recht?
Auch die Zürcher Sozialdemokratin Jacqueline Badran wagt Widerworte gegen die Medien, die «gerne jammern», der Wahlkampf «sei doch etwas gar inhaltsleer». Gleichzeitig spielten die Blätter, Sender, Plattformen sämtliche Versuche der Parteien zu einer inhaltlichen Positionierung als «Wahlkampfgeplänkel» herunter, so die SP-Nationalrätin.
Genau so ist es. Die Medien machen Stimmung – gerne zur Gaudi der Stimmbürger. Das Deutschschweizer Fernsehen hatte den unüberbietbaren Einfall, die Parteipräsidenten als Köche zu präsentieren. Der «Tages-Anzeiger» lobte das Laientheater der Politiker im Küchenschurz samt einer Parteipräsidentin mit Gemüsekorb: «Kochen statt Politisieren.»
Als nicht sonderlich ernst zu nehmend – so sehen Journalisten die demokratisch Verantwortlichen gerne: Sie verteilen «Noten» – Schulnoten; sie fordern die Gewählten auf, «ihre Hausaufgaben zu machen» – Schülerinnen und Schüler im Bundeshaus; schliesslich ergötzen sie sich jeden Sommer am «Bundesratsreisli» – eine Regierung auf dem Schulausflug.
Der Journalismus von oben herab wird nicht hinterfragt, schon gar nicht durch Politiker. Wozu es sich mit denen verderben, die das Wahlkampfklima bestimmen, die man also besser für sich gewinnt, und sei es durch Willfährigkeit.
Die demokratische Macht kuscht vor der medialen.
Und die mediale Macht sieht sich berufen, die demokratische ihrer Kontrolle zu unterwerfen.
In der Demokratie kontrollieren einander seit Montesquieus Modell der Gewaltenteilung drei Staatsgewalten: Legislative, Exekutive und Judikative – doch längst ist eine «vierte Gewalt» herangewachsen: die Mediengewalt.
Gewalt und Medien? Eigentlich spielen die Medien in der Demokratie die Rolle des Dieners für Bürger und Politik. Aber haben sie sich nicht längst zu einem eigenständigen Machtfaktor entwickelt?
Zur Staatsgewalt ohne demokratische Kontrolle? Macht ohne Mandat?
Weshalb sind Medien und Journalisten plötzlich umstritten, wo sie sich doch in der Vergangenheit so sehr als Garanten der demokratischen politischen Kultur bewährt haben? Liegt es womöglich an den Medienmachern?
Wer macht die Medien? Fleissige Journalist*innen, dem Zeitgeist ergeben, digital ausgerüstet, um «User» zu beglücken und deren «Likes» zu generieren, vor allem natürlich, um «Klicks» zu mehren – den neuen publizistischen Qualitätsstandard.
Das redaktionelle Geschehen läuft nicht mehr in klassischen Redaktionsräumen ab, an Schreibtischen mitsamt der ganz persönlichen Unordnung des Journalisten – Bücher und Zettel und Kaffeebecher und Schreibgerät.
Die neue schöne Welt des postmodernen Journalismus heisst Newsroom: ein digital-cleaner Raum mit digital-cleanen Bildschirmen – vor allem frei von jeder persönlichen Schreibtisch-Kultur.
Und wer arbeitet da? Journalisten, einer wie der andere akademischer Herkunft, vom Politologen über den Psychologen bis zum Studienabbrecher – ohne Lebenswege, die durch die gesellschaftliche Wirklichkeit geführt hätten. Also keine Schreiber und Rechercheure und Analytiker mit praktischen Erfahrungen im Arbeitsleben. Keine Kenner der Verhältnisse, die täglicher Gegenstand ihres Berufes sind – Fremde in der Welt der Werktätigen.
Die Medienmacht, die Kontrollmacht der Demokratie: in den Händen einer wohlbestallten und wohlbehüteten Elite – einer Studenteska!
Da liegt die Frage nahe: Wer kontrolliert eigentlich diese lebensferne Elite, die sich anmasst, die lebensnahe Welt von Politik, Wirtschaft, Kultur und Gesellschaft zu kontrollieren?
Ja, Kontrolle der Medien ist ein böses Wort. Ja, Kontrolle der Journalisten wäre ein unsäglicher Vorgang im demokratischen Staat. Es bleibt nur die Kontrolle der Medien und der Journalisten durch die Medien und Journalisten.
Die Selbstkontrolle.
Was das bedeutet? Als Erstes Pluralismus beim Personal. Öffnung der Redaktionen für Talente jedweder sozialen Herkunft. Annäherung des journalistischen Biotops an die gesellschaftliche Realität: Wer über die wirkliche Welt berichten soll, der müsste auch aus der wirklichen Welt stammen – aus der Berufswelt.
Lebensschule statt Bachelor und Master.
Vielleicht ist dem Arzt Ignazio Cassis mit seiner Medienkritik eine zutreffende Diagnose gelungen. Jedenfalls reagierte die Zeitung «Corriere del Ticino» sofort betroffen. Sie protestierte: Es gebe keinen Grund, «die Zeitungen zu verunglimpfen, die für unsere Demokratie grundlegend bleiben».
Wohl wahr – läge nicht die alltägliche Wirklichkeit allzu vielen Journalist*innen allzu fern.