Argentiniens neuer Präsident Javier Milei inszenierte sich vor dem gebannt lauschenden Weltwirtschaftsforum als «Anarchokapitalist». Er warnte den Westen vor Sozialismus und Feminismus – damit meinte er den Sozialstaat und die Gleichberechtigung der Frauen. Ebenso grundsätzlich geisselte der struppige Südamerikaner die soziale Marktwirtschaft, wie die Europäer sie leben – wie die Schweizer sie lieben.
Milei rief das WEF-Publikum zum Kampf gegen eine sozialistische Verschwörung im Westen auf: Frauenförderung sei «überflüssig», ein soziales Auffangnetz «lächerlich». Das alles regle der Markt. Wörtlich stellte der Vorsitzende des weit rechts stehenden Partido Libertario fest:
«Freier Handel und Kapitalismus sind die einzigen Instrumente, um Hunger und Armut auf der Welt zu bekämpfen.»
Niemand in Davos fiel ihm ins Wort. Warum wohl? Der argentinische Wirtschaftslibertäre trifft ins Schwarze. Freilich ganz anders, als er meint. Was er anführt, um den Sozialstaat als Feind des Kapitalismus zu geisseln, ist im Gegenteil der Beweis dafür, dass der Sozialstaat die Substanz eben dieses Kapitalismus ausmacht.
Ganz besonders klar wird das genau durch die Tatsache, die Milei hervorhebt: Der Kapitalismus hat Hunger und Armut auf der Welt erfolgreich bekämpft – und tut es weiterhin.
Aber wie gelingt ihm das? Durch ständige Anpassung des freien Wirtschaftens an die Bedürfnisse freier Bürger: Die Emanzipation des Menschen vom ausgebeuteten Objekt zum bestimmenden Subjekt – vom Proletarier zum Bürger – ging einher mit der sozialen Gestaltung des Marktes.
Heute bestimmen Citoyenne und Citoyen, was der Gesellschaft frommt. Die Demokratie ist das Ganze – die Wirtschaft nur ein Teil davon.
Ja, die ökonomische Freiheit ist unverzichtbar für die Freiheit der ganzen Gesellschaft. Einhegen des Kapitalismus, wo er mit Macht überschiesst, ist das eine. Das andere ist es, dem Kapitalismus möglichst viel anarcho-kreative Freiheit zu belassen, und zwar mit allen Risiken des Scheiterns – es ist das Lebenselement der offenen Gesellschaft.
Nur diese Freiheit ermöglicht Versuch und Irrtum, also das Fortschreiten zum besseren Neuen.
Wenn Milei seine argentinische Freiheitsbotschaft so meint, müsste er über die Entwicklung des Kapitalismus jubilieren, ganz besonders über die soziale Marktwirtschaft, ist sie doch Ausdruck von weniger Armut, also von Emanzipation der Bürgerschaft, von der politischen Ermächtigung aller Bürgerinnen und Bürger im demokratischen Rechtsstaat.
Allerdings ist zu vermuten, dass Argentiniens Revoluzzer-Reformer eine andere Kapitalismus-Formel im Sinn hat:
Das Trickle-down-Prinzip.
Gemäss dieser Formel rieseln Wohltaten vom üppig gedeckten Tisch der Reichen hinunter zu den einfachen Leuten. Das Bild ist zynisch:
Soziale Rechte werden zu Almosen, selbstbewusste Bürger zu Bittstellern.
Kapitalismus ist das Gegenteil: ein Maschinenraum der Freiheit, mit sozialer Sicherheit als Antrieb, als Voraussetzung der Bürgerfreiheit. Kapitalismus muss von den Bürgern gestaltet werden – damit daraus gestaltender Kapitalismus wird.
Mileis Wirtschaftsvulgarität hat ihre Wurzeln im argentinischen Elend eines generationenalten Populismus – berüchtigt geworden als Peronismus, der Ideologie des Autokraten Juan Perón (1895–1974), einst ästhetisch verklärt durch seine zauberhafte Frau Evita, bekannt durch Film und Musical. Peróns Wirtschafts- und Herrschaftsform prägt immer noch Argentiniens Politik, letztmals prominent durch die Kirchner-Dynastie, die zwei der letzten vier Präsidenten des Landes stellte.
Milei setzt dem Peronismus entgegen, was er für Freiheit hält: einen Trugschluss als Antwort auf einen Trugschluss.
Hätte der Sendbote aus Südamerika sich doch in der Schweiz umgesehen – über die bergige Sicht-Behinderung am WEF hinweg. Er wäre mit der Erkenntnis abgereist, was Wirtschaftsliberalismus wirklich ist – und zu schaffen vermag:
Zum Beispiel die Schweiz, sozial und kreativ und voller Fleiss und Elan – eine Weltspitzennation, demokratisch gestalteter und rechtsstaatlich gesicherter Kapitalismus.
Javier Milei sollte mal in Zürich Ferien machen.