Vor 75 Jahren, am 20. Juli 1944, schritt Claus Schenk Graf von Stauffenberg zur Tat: Im «Führerhauptquartier» Wolfsschanze bei Rastenburg, Ostpreussen, deponierte der Oberst im Generalstab der deutschen Wehrmacht einen Sprengsatz unter dem Kartentisch von Adolf Hitler. Der Anschlag misslang. Hitler überlebte leicht verletzt. Stauffenberg wurde um Mitternacht desselben Tages erschossen.
Ist Stauffenberg ein Held?
Sind seine Mitverschwörer Helden?
Ja, die Beteiligten am Umsturzversuch gegen den deutschen Diktator und Massenmörder sind Helden: Sie haben ihr Leben eingesetzt, sie wurden vom Volksgerichtshof des fanatischen Nazirichters Roland Freisler zum Tode verurteilt.
Ja, das Attentat vom 20. Juli 1944 ist eine Heldentat.
Und doch sind die Helden jener späten Aufwallung gegen die Nazi-Herrschaft kritisch zu betrachten: Die vornehmlich aus Adelsgeschlechtern stammenden Widerständler waren – mit wenigen Ausnahmen – Anhänger des Dritten Reiches, auch des Vernichtungskrieges im Osten, insbesondere gegen die Sowjetunion. Graf Stauffenberg teilte Hitlers Verachtung für die polnischen «Untermenschen». Die Eroberung von Lebensraum für Grossdeutschland stiess bei den Verschwörern weitgehend auf Zustimmung. Auch die Verfolgung der Juden konnte sie jahrelang nicht zu einem Aufstand der Anständigen bewegen. Ihre Skepsis galt allenfalls Hitlers militärischen Führungsqualitäten. Zudem gab man sich peinlich berührt von der Vulgarität des «Grössten Feldherrn aller Zeiten».
So vergingen Jahre des Terrors und des Krieges, bevor das moralische Bewusstsein reif war für die Tat – die Bereitschaft zu einem Opfer, in dessen Gedenken sich jeder Demokrat verneigen darf.
Doch die Tat samt dem Heldentod der Attentäter wäre unnötig gewesen, hätten sie früher ihre Moral entdeckt, hätten sie rechtzeitig ein demokratisches Bewusstsein entwickelt – und gelebt. Vor 1933. Vor der Machtübernahme Hitlers.
Die Weimarer Republik war Demokratie und Rechtsstaat, der erste Versuch der Deutschen mit einer freiheitlichen Regierung. Ein Versuch, dem es jedoch an Demokraten fehlte: Die Bourgeoisie verweigerte sich der neuen Ordnung ebenso wie die Abkömmlinge des Adels, insbesondere das preussische Junker-Milieu.
Dem bürgerlichen Staat fehlten die Bürger – die Citoyens.
Noch in den späten Jahren von Weimar, als die Nazis bereits marodierend durch die Strassen marschierten, wäre das Hitler-Reich zu verhindern gewesen. Heldentaten hätte es dazu nicht bedurft. Nur eines konsequenten Engagements des Bürgertums und der Adelsschicht für den demokratischen Rechtsstaat.
Die Demokratie braucht keinen Heldenmut, sie braucht nur Zivilcourage.
Die späten Helden vom 20. Juli waren dazu weder bereit noch geschaffen. Ganz im Gegenteil. Sie verachteten die neuen Verhältnisse, sie verweigerten sich der Bürgerpflicht, sie unterminierten die Demokratie. Für sie war die Weimarer Republik eine sozialdemokratische Schöpfung – inakzeptabel, verwerflich vom ersten Tag.
Daher begrüssten sie Hitler als Reichskanzler – und hegten die trügerische Hoffnung, den hetzerischen Emporkömmling ihren eigenen antidemokratischen Absichten dienstbar zu machen.
Der 20. Juli 1944 dokumentiert auf dramatische Weise ihr Scheitern – und ihr Erwachen.
Spät. Zu spät.
Ein grossartiger Akt des Widerstandes ereignete sich am 23. März 1933 im Deutschen Reichstag. Da sassen im Parlament bereits drohend die SA-Männer, draussen im Land lief die Verfolgung der Regimegegner an. Hitler forderte ein «Ermächtigungsgesetz», das den Rechtsstaat eliminierte und ihn endgültig zum Diktator machte.
Vor diesem Hintergrund hielt Otto Wels, der Vorsitzende der Sozialdemokratischen Partei, die letzte freie Rede der ersten deutschen Demokratie: gegen das Ermächtigungsgesetz, dem ausser den Sozialdemokraten und den bereits aus dem Reichstag ausgeschlossenen Kommunisten sämtliche Abgeordneten zustimmten. Sein ergreifendster Satz:
«Freiheit und Leben kann man uns nehmen, die Ehre nicht.»
Mehr als elf Jahre mussten vergehen, bis Hitlers Wegbereiter und Ermöglicher diesem Satz mit ihrer Heldentat folgten.