Frank A. Meyer – die Kolumne
Go West!

Publiziert: 29.08.2020 um 23:33 Uhr
Frank A. Meyer

Scheitert der Westen? Seit Jahren wird diese Frage mit bangem ­Unterton gestellt, bisweilen auch frohlockend, weil die Antwort schliesslich nur Ja lauten könne. Auch eine naseweise Vollzugs­meldung ist gelegentlich zu lesen: «Der Westen ist nicht in Gefahr zu scheitern – er ist bereits gescheitert.»

Der chinesische Regimekritiker und Künstler Ai Weiwei verglich in einem Interview mit der «NZZ am Sonntag» das chinesische Brettspiel Go mit dem westlichen Brettspiel Schach und kam zum Schluss: «Der Westen kann das Spiel nicht gewinnen.»

Aber was hiesse das, wenn der ­Westen scheitert? Es hiesse: Die ­Freiheit scheitert.

Gibt es Freiheit ausserhalb des Westens? Nein! Denn wo immer politische Freiheit in Form von Demokratie und Rechtsstaat herrscht, stützt sich die Gesellschaftsordnung auf Werte des Westens. Ob in Asien oder in Afrika: Ist das Ergebnis demokratisch, war die Blaupause westlich.

Der 250. Geburtstag von Georg Wilhelm Friedrich Hegel gibt in diesen Tagen Anlass, seiner Freiheitsdialektik zu gedenken. Der grosse schwäbische Philosoph hat den dia­lektischen Dreisprung in die Welt gesetzt: These–Antithese–Synthese, die Zauberformel westlichen Denkens. Sie bestimmt die Krea­tivität der Freiheit, indem sie Denkprozesse nie abschliesst, sondern grundsätzlich offenhält, sie beständig erweitert und ausweitet – wird doch jede Synthese erneut zur These, der eine Antithese folgt, die zur nächsten Syn­these führt.

Karl Popper, Freiheitsphilosoph des 20. Jahrhunderts, destillierte daraus die politische Formel von Versuch und Irrtum.

Ja, so funktioniert geistige Freiheit: Weiterdenken, Gegendenken, Umdenken, Neu­denken. Den Rahmen dafür liefert die Demokratie: die Werkstatt des politischen Handwerks – geschützt durch den Rechtsstaat.

In diesem System weht die Freiheit, wo sie will. Sie ist die Freiheit des Einzelnen: die ­Freiheit des Menschen – und damit unteilbar. Sie kann nicht ohne negative Folgen für den Fortschritt der Gesellschaft beschränkt werden auf einzelne Bereiche, zum Beispiel auf die Wirtschaft.

Genau dies jedoch versucht China mit seinem Konstrukt aus kommunistischer Parteiherrschaft und freier Wirtschaft, wobei das letzte Wort auch ökonomisch immer von der Partei gesprochen wird.

Scheitert der Westen am chinesischen Modell, dessen Mélange aus Kommunismus und ­Ka­pitalismus man – grob betrachtet – auch als postmodernen Faschismus bezeichnen könnte? Wäre dem so, er würde an sich selber scheitern, gründet doch die erste Digital-Diktatur der Menschheitsgeschichte auf zwei Hervorbringungen des Westens: dem Marxismus, also einer heilsgeschichtlichen Überdehnung der hegelschen Dialektik, und dem Kapitalismus im Dienste dieser kommunistischen Denk-Dekadenz.

Ein Treppenwitz der Geschichte!

Besteht denn ernsthaft Gefahr, dass die ­Freiheit in Konkurrenz mit der Unfreiheit ­unterliegen könnte? Eine sehr ähnlich gelagerte Angst erfasste Amerika und Europa schon vor rund sechzig Jahren: 1957, als die Sowjetunion mit Sputnik 1 den ersten künstlichen Satelliten in eine Erdumlaufbahn schoss und 1961 sogar den ersten Menschen ins All beförderte.

Die kommunistische Weltmacht – der freiheitlichen Weltmacht USA überlegen! Der Schock war gewaltig. John F. Kennedy warnte: «Falls die Sowjets das Weltall kontrollieren, können sie die Erde kontrollieren.»

1989 deponierte die Moskauer Diktatur der Diktaturen die Bilanz: Bankrott in jeder Be­ziehung.

Ist dieser Vergleich mit China erlaubt? Ganz und gar. Lernen aus der Geschichte ist ge­boten. Ähnlich wie das einstige Zarenreich legte das Reich der Mitte einen ge­waltigen Weg in beeindruckend ­kurzer Zeit zurück: vom Mao-Staat mit Hochöfen in jedem Dorf zur Werkstatt des Westens mit modernsten ­Industriemetropolen.

China sprang von null auf 1,20. Das ist imposant. Der Westen springt von 2,40 auf 2,45 Meter. Das ist weniger imposant. Das wissen die Gewaltherrscher in Peking. Da­rum gründen sie ihr Erfolgsrezept auf fünf K: Kommunismus, Kapitalismus, Klauen, Kopieren, Kaufen. Und der Westen dient ihnen mit seiner Freihandelsnaivität zu.

Allerdings fehlt dem chinesischen System die Ursubstanz des Erfolges: die Freiheit des Bürgers.

Wohl wahr, dass Tausende seiner Köpfe sich an den besten westlichen Universitäten ausbilden lassen. Wohl wahr, dass diese besten Köpfe an den Universitäten und in den Unter­nehmen Chinas fleissig wirken. Wohl wahr, dass der Telekomausrüster ­Huawei digitale Weltklasse ist.

Wohl wahr ist aber ebenso, dass auch Huawei der westlichen Wissenswelt bedurfte – und bedarf.

Wer eigene Völker wie die Uiguren brutal ­unterdrückt, wer die freiheitsdurstige Jugend von Hongkong fürchtet, wer seine Städte und Dörfer mit mehr als 600 Millionen Über­wachungskameras bestückt, um die Bürger total zu kontrollieren, wer Verhalten und ­Bewegungen seiner Bürger per Smartphone registriert, um ihr Alltagsverhalten zu be­werten, zu belohnen oder zu bestrafen – der wird nie die Kreativität einer Gesellschaft freier Bürgerinnen und Bürger erreichen.

Allein den Kapitalismus zu befreien, genügt nicht, zumal auch die Freiheit des Kapitalismus in China fiktiv ist. Ein Fingerschnippen von Xi Jinping – und Huawei kuscht.

Georg Wilhelm Friedrich Hegel formulierte die Weisheit des Westens so: «Die Welt­geschichte ist der Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit.»

Go West!

Demokratie ist mühsam
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