Ein Umarmer war er nicht. Er legte Wert auf Distanz. Aus Vorsicht? Aus Scheu? Jedenfalls wie ein Protestant – der er nun überhaupt nicht war. Er wurzelte im klassisch-selbstbewussten Katholizismus, wobei er dies keineswegs theologisch verengt sah, sondern politisch: Sein Bestreben war es stets, die Macht der konfessionellen Familie im helvetischen Netzwerk zu bewahren und nach Möglichkeit zu mehren.
Flavio Cotti, der Partei-Patriarch.
Der «Tages-Anzeiger» titelte nach seinem Tod: «Der Europäer». In der Tat war der Tessiner aus Muralto am Lago Maggiore dem Kontinent und seinem römisch-christlichen Kulturraum innig verbunden, insbesondere der Europäischen Union. Der katholische Europäer wusste um die massgeblichen katholischen Einflüsse auf dieses historisch einmalige Friedensprojekt: Schuman, de Gasperi, Adenauer – Gründerfiguren der europäischen Einigung, alle drei der einzigen und ewigen Kirche verbunden.
Flavio Cottis Kultur als Tessiner: tiefgründig schweizerisch. Flavio Cottis Kultur als Schweizer: weitherzig europäisch.
Nicht zuletzt war er ein Mann voller Neugier für andere, was ihn über die Grundierung durch seinen Glauben hinaustrug – ins Offene des Denkens und Gegendenkens, in den Wunsch nach Widerspruch.
So etwas war während der Achtzigerjahre in konservativen Kreisen selten. Zudem war der Begriff intellektuell grundsätzlich linksintellektuell konnotiert. Flavio Cotti liebte seine Widersacher aus jener Szene. Er lud sie zur Salon-Debatte ins Von-Wattenwyl-Haus an der Berner Junkerngasse. Da durfte es hoch hergehen. Heiner Geissler, CDU-Generalsekretär in Bonn und brillanter politischer Denker, fragte verunsichert und beeindruckt: «So geht ihr miteinander um?» Flavio Cottis Antwort: «So sind wir Schweizer – wir Republikaner!»
Man darf füglich fragen: Wie wurde so einer Bundesrat?
Erstens hat er es gewollt – schon als Kind, wie er freimütig gestand. Zweitens lernte er es – von Grund auf, ganz besonders als Regierungsrat und Präsident der schweizerischen CVP. Drittens mass er allen Menschen Wert zu, die ihm dabei behilflich sein konnten – keineswegs auf durchsichtig-vordergründige Weise, sondern wahrhaftig interessiert.
Flavio Cotti war ein hoch talentierter Charmeur, einer der intelligentesten, einer der gebildetsten, die das Bundeshaus in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts bevölkerten. Sein Lächeln und Lachen waren Instrumente all der Flirts, mit denen er Zuwendung abholte, bei Männern wie bei Frauen.
Man sagt, Tessiner seien unwiderstehlich, so sie ihre nördlich gefärbte Italianità spielen lassen – der Ticinese Cotti war es. Seine Freude am gelungenen Augenblick überstrahlte seine politischen Intentionen, und zwar nicht berechnend, sondern einfach, weil er lustvoll genoss.
Geniesser des Auftritts, Geniesser der Macht – das passte zwar weniger ins Bundeshaus, aber es passte zum Amt des Präsidenten der OSZE, wo er schon mal amerikanische Allmachts-Attitüden abschmetterte, zum Beispiel eine ungehörige Einmischung des sagenumwobenen Weltdiplomaten Richard Holbrooke, den Cotti zurechtwies: «Der Präsident hier bin ich!»
Genau so, wie er war, hätte er gern die Schweiz gehabt: Selbstbewusst, am liebsten mit Dirigentenstab vor dem Europa-Orchester im Weltkonzert. Grössenwahn? Ach was! Flavio Cotti hatte nur klarer als die übrige politische Schweiz begriffen, was das Ende der bipolaren Weltordnung nach dem Mauerfall 1989 bedeutete: einen Wechsel aller gewohnten Denkmuster.
Das bisherige Muster, erfolgreiches Rezept seit über hundert Jahren: Die Schweiz am Katzentisch, auf dem sich die Goldtöpfe stetig füllen. Nun plötzlich herrschte das neue Muster, sozusagen über Nacht: der entfesselte Weltwettbewerb. Da hiess es, möglichst am Tisch der Macht zu sitzen, die global den Gang der Dinge mitbestimmt, am Tisch der Europäischen Union. Und dabei nicht still zu sitzen, sondern – ganz im Gegenteil – die grandios erfahrene, die kluge, die tüchtige Schweiz zu einer der geistigen und wirtschaftlichen Führungsnationen EU-Europas zu machen.
Nun, es wurde nichts daraus. Doch Flavio Cotti blieb die weit über die Landesgrenzen hinausstrahlende Gestalt – die «bella figura» der Schweizer Aussenpolitik.
Bei seinem Auftritt mit Bundeskanzler Helmut Kohl am «Dîner républicain» trottete er nicht als der harmlos-putzige Schweizer neben dem weltgewohnten Deutschen über den Rasen vor dem Castello del Sole in Ascona – nein, da schritt die Schweiz auf mindestens gleicher Höhe mit der Nachbarsmacht.
Und zu Hause unter der Bundeskuppel? Da konnte er ein formvollendetes Ekel sein, und Mitarbeiter, wenn sie sich als schwach erwiesen, gnadenlos stehen lassen oder zusammenstauchen. Er liebte nun mal Stärke. Das Prinzip: Man hatte sich zur Wehr zu setzen – und er liess es zu, erwartete es sogar. Flavio Cotti respektierte Widerspruch, ja: er liebte ihn, sofern er nur wortgewandt daherkam.
Er selbst parlierte perfekt Französisch. Die deutsche Sprache pflegte er mit Eleganz zu zelebrieren – in Schachtelsätzen, barocken Wendungen, Differenzierungen in Neben-Nebensätzen, Andeutungen, Zurücknahmen, Relativierungen.
Flavio Cotti war vernarrt in Sprache, in sein eigenes Sprachkönnen – ein Literat der Alltagspolitik. Damit ging er auch ein Risiko ein: So formuliert man nicht, wenn man Bundesrat werden will. Und erst recht nicht, wenn man Bundesrat ist.
Er wurde es. Er war es. Zum Wohle der Schweiz.