Bürgerrat! Ein erquickender Begriff in diesen Zeiten politischer Larmoyanz. Im Ohr des sensiblen Demokraten klingt es entzückend. Der verantwortungsbewusste Bürger greift nach dem Wort wie nach einem Rettungsring. So jedenfalls ist der Bürgerrat gedacht: als Vollendung der Demokratie.
Und damit wird das Wunderwort zum Wunderwerk: 100 zufällig Ausgeloste beratschlagen über ein gesellschaftlich gerade angesagtes Problem, demnächst zum Beispiel über die Ernährung der Schweizer*innen, also über nachhaltiges Essen, das ja, wie wir wissen, bei der Entscheidung am Gemüseregal des Detaihändlers seinen Anfang nimmt, wenn nicht bereits bei der Wahl der Anbaumethode des Bauern.
Genau dazu soll ein Bürgerrat nun die Erkenntnisse liefern, und zwar mit dem Ziel, allen Menschen in der Schweiz bis 2030 gesunde, nachhaltige, tierfreundliche und fair produzierte Lebensmittel zugänglich zu machen. Das Ziel steht also von vornherein fest. Die durch das Los bestimmten Räte haben nur noch die Bestätigung zu liefern, wobei auch sie bereits einer zielgerichteten Auswahl unterworfen wurden.
Hinter dem Unterfangen des Bürgerrats stehen ein Netzwerk für nachhaltige Entwicklung inklusive nachhaltigem Essen und Trinken, zudem klimaengagierte Kreise inklusive Aktivisten des Klimastreiks, kurzum: die Lobby für die Rettung von Mensch und Welt. Bis November sind elf Treffen des Ernährungsparlaments geplant, das Politik und Verwaltung «Empfehlungen» ans Herz legen soll. Der Bund unterstützt das Unterfangen mit 0,4 Millionen Franken.
Bürgerrat? Rat der Bürger? Die Camouflage ist perfekt: Es scheint, als dürften Menschen aus dem Volk endlich die Fragen der Zeit miterwägen, per Debatte im überschaubaren Rahmen – gemessen an der etablierten Politik also geradezu intim. Hilfreich zur Seite stehen ihnen Experten.
Experten?
Ja, Wissenschaftler, Sachkundler aus den Universitäten, aus den NGO, wenn nötig und unvermeidlich auch aus den Kirchen. Was immer es zu verhandeln gilt – akademisch Erleuchtete jedweder Provenienz stehen bereit, dem Laienrat die Richtung zu weisen.
Genau darum geht es: um die Instrumentalisierung der Politik durch eine Zunft, die sich zu wenig beachtet fühlt, die eine Bedeutung erringen möchte, der sie bisher entraten musste, weil die demokratischen Institutionen sich ihr nicht zu Füssen warfen. Jetzt soll eingeführt werden, was die Demokratie auf den Wissensstand der Wissenschaft erhebt – auf den Wahrheitsstand von Expertisen zu allen existenziellen Fragen.
Expertokratie statt Demokratie – endlich möglich gemacht durch den Bürgerrat!
In der Tat fehlt es an Sandkästen für die alljährlich zahllos ausgebrüteten «Master» in immer zahlloseren Studiengängen, insbesondere in neuerdachten Fachgebieten. Deutschland, allwo der «Bürgerrat» ebenfalls gerade als Segen für die Demokratie angepriesen wird, zählt beispielsweise 173 Lehrstühle für Genderforschung – Genderforschungs-Bürgerräte sind daher allerdringlichst ins Leben zu rufen!
Leider, leider eignet sich die Demokratie nicht sonderlich für die nach Einfluss und Einkommen strebende Akademikerzunft. Bürgerräte sollen dieses Manko beheben: die Hörsaal-Elite demokratisch erhört und erhöht durch Stammtischvolk.
Der bezaubernde Begriff Bürgerrat ist fauler Zauber. Die Demokratie funktioniert bereits seit eh und je über Räte: Stadtrat, Gemeinderat, Grossrat, Kantonsrat, Regierungsrat, Nationalrat, Ständerat – Bürgerräte auf sämtlichen Entscheidungsstufen des Gemeinwesens. Dazu die Referenden und Volksinitiativen – Bürgerratsschläge sonder Zahl, wenn ihnen zugestimmt wird, sogar verpflichtend.
Die Demokratie ist der Bürgerrat!