Hat der Bundesrat Zehntausenden das Leben gerettet? Ein Studie des Imperial College London kommt zu diesem Schluss: Der Schweizer Lockdown habe 52'000 Todesfälle verhindert. Das Resultat wurde vom Fachmagazin «Nature» publiziert, einem Leuchtfeuer der Seriosität.
Mehr kann ein Land von seiner Regierung eigentlich nicht erwarten.
Der Wirtschaftswissenschaftler Bruno S. Frey hat vom Bundesrat anderes erwartet: mehr Diskussion über unterschiedliche Auffassungen. Er kommt zum Schluss: «Unsere Demokratie ist nicht so toll, wie viele – auch ich – dachten.»
Hat der Bundesrat undemokratisch gehandelt?
Die Schweizer Demokratie bildete den Rahmen, in welchem das Regierungskollegium in Bern handelte. Also handelten die sieben gemeinsam verantwortlichen Minister nicht undemokratisch, sondern auf der Grundlage verfassungskonformer Sondervollmachten.
Hätte der Bundesrat eine öffentliche Debatte führen sollen, bevor er seine Entscheide fällte? Hätte er, wie Frey moniert, «unterschiedliche Auffassungen» und «Alternativen» anbieten müssen, um dann die beste Lösung auszuwählen?
Solch ein Auswahlverfahren setzt überprüfbare Fakten voraus, gestützt durch Erfahrungstatsachen. Genau die aber gab es zum Zeitpunkt des Corona-Ausbruchs nicht – es gibt sie bis heute erst in Ansätzen. Die Landesregierung konnte nicht wählen zwischen richtig und falsch, weil richtig und falsch keine Kriterien waren, die als Beipackzettel der Pandemie mitgeliefert wurden. Nicht nur die Schweizer Exekutive war ahnungslos, als sie durch einen medizinischen Notstand zur alleinigen Verantwortung verdonnert wurde – die ganze Welt war es!
Ohne wählen – auswählen – zu können, musste der Bundesrat entscheiden: jeden Monat, jede Woche, jeden Tag, jede Stunde.
Entscheiden bedeutet: Man kann richtig oder man kann falsch entscheiden, aber man muss es tun, weil die Zeit drängt – weil es um Menschenleben geht, wie beispielsweise im Fall der Corona-Pandemie. Jede Entscheidung im Notfall impliziert, dass dem Entscheider die Alternativen im Nacken sitzen, die er verworfen hat – und die sich später als besser erweisen könnten.
Im Nachhinein weiss es jeder besser – in Sonderheit natürlich akademische Kathederhelden.
Der Bundesrat, dem so gut wie kein Corona-Wissen zur Verfügung stand, handelte und lernte und handelte und korrigierte und handelte und machte Fehler. Das Resultat der «Nature»-Rechnung: 52 000 gerettete Menschenleben. Auch diese Zahl ist ungesichert, weil Unsicherheit nun mal Lockdown-Realität bleibt.
Dem Bundesrat dienten sich auf dem Höhepunkt des Pandemie-Schreckens zwei stramm neoliberale Ökonomie-Professoren an, Berufskollegen von Bruno S. Frey. Einer der beiden erklärte, «dass es gerade in Krisenzeiten erst recht der Ökonomik bedarf, um mit der gebotenen Sachlichkeit» die politischen Entscheide zu überprüfen. Der Mann plädierte für «kontrollierte Infizierung», was auf sogenannte Herdenimmunität hätte hinauslaufen sollen. Sein Kollege schwärmte davon, dass die Infizierten und dadurch – was bis heute umstritten ist – fortan Immunen «als gesundheitspolitische und ökonomisch wertvolle Ressource zu verstehen» seien – ganz die Mentalität von Viehzüchtern.
Schweden hat sich auf diesen Weg gemacht. Das Resultat: wesentlich mehr Tote – und keine Herdenimmunität. Das schwedische Desaster verschonte auch nicht die Wirtschaft.
Der neoliberale Ökonomismus erwies sich in der fatalen Praxis Schwedens als das, was er immer schon war: vulgärdarwinistischer Infantilismus.
Im Bundesratszimmer, diesem altehrwürdigen Raum der Schweizer Demokratie, entschieden über Wohl und Wehe in Corona-Zeiten sieben Erwachsene.