Am Samstag vor einer Woche nahm Ignazio Cassis an einer grossen Ukraine-Kundgebung in Bern teil. Ja, der schweizerische Aussenminister solidarisierte sich mit den Demonstranten auf dem Bundesplatz – und bekundete so seine Solidarität mit dem Kampf der Ukraine gegen die russische Invasion.
Über Bildschirm und Lautsprecher war Kiews Regierungschef Wolodimir Selenski zugeschaltet. Auch mit ihm persönlich solidarisierte sich Ignazio Cassis. Er sprach ihn, Kopf und Herz des Widerstandes gegen Putins verbrecherischen Überfall, mit brüderlichem Du an. Der amtierende Bundespräsident sagte zum Kämpfer für die Freiheit der Ukraine: «Lieber Wolodimir, wir sind beeindruckt, wie ihr Grundwerte der freien Welt verteidigt, die auch unsere Grundwerte sind.»
Der Mann aus Montagnola war ganz und gar bei sich – ganz und gar Tessiner.
Mit seinem aussergewöhnlichen Auftritt in aussergewöhnlicher Stunde rettete Cassis die demokratische Statur der Schweiz, die sie durch ihr peinliches Zögern aufs Spiel gesetzt hatte, als es um die Übernahme der westlichen Sanktionen gegen Russland ging.
Ignazio Cassis verkörperte auf dem Bundesplatz vor aller Weltöffentlichkeit die Würde der Schweiz.
Die SVP «schäumt wegen Cassis’ Auftritt in Bern», wie die «Neue Zürcher Zeitung» zu berichten wusste. Der Präsident der Populisten-Partei belehrte den Bundesrat: «Diplomatie, die etwas bewegen soll, findet nicht öffentlich auf dem Bundesplatz statt.» Der Satz ist richtig und falsch zugleich: Diplomatie gehört in der Tat ins Hinterzimmer – der Auftritt des Aussenministers aber war kein Akt der Diplomatie.
Ignazio Cassis machte auf dem Bundesplatz Politik.
Mit diplomatischen Ausreden hatte die Landesregierung zuvor versucht, den internationalen Russland-Sanktionen auszuweichen. Das Diplomaten-Gerede von den guten Diensten, die Schweizer Tradition seien und tätige Parteinahme für die Ukraine leider, leider ausschliessen, brachte die Schweiz international in Misskredit – von Brüssel bis Washington.
Ignazio Cassis reparierte den Schaden.
Krieg ist keine Zeit für Diplomatie. Krieg ist Zeit für Politik. Und Politik heisst in diesem Fall: tätige Solidarität – mit klarem Bekenntnis, mit wirtschaftlichen Sanktionen, mit Waffenlieferungen, mit Sicherstellung von Oligarchenvermögen, mit Aufnahme von Flüchtlingen.
Einst hiess das schweizerische Aussenministerium. «Eidgenössisches Politisches Departement», EPD. Der Umgang der Schweiz mit der Welt war Politik. Mittlerweile haben die Diplomaten das Departement gekapert. Sie geben den Aussenministern vor, was sie zu sagen haben und wie sie es zu sagen haben. Das EPD heisst jetzt «Eidgenössisches Departement für auswärtige Angelegenheiten», EDA. Die Politik ist gestrichen. Ersetzt durch das nichtssagende, nichts meinende Allerweltswort «Angelegenheiten».
Putins Krieg aber ist keine Angelegenheit. Er ist, folgt man dem preussischen Militärdenker Carl von Clausewitz (1780–1831), die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln. Der russische Führer betreibt, wie einst Hitler, Weltpolitik – durch einen Krieg mitten in Europa. Die Antwort kann nur eine politische sein, keine diplomatische. Auch für die Schweiz. Die Diplomatie ist dieser Politik nachgeordnet – untergeordnet.
Ignazio Cassis hat auf dem Bundesplatz Politik gemacht. Im Lichte der helvetischen Scheu vor Aussenpolitik darf sogar gesagt werden:
Ignazio Cassis hat Politik – gewagt.