Frank A. Meyer – die Kolumne
Die Schweiz und der Westen

Publiziert: 27.02.2022 um 01:37 Uhr
Frank A. Meyer

Und plötzlich ist der Westen in aller Munde, der alte Begriff, an den man sich klammert, der Rettungsring, nach dem sich aufgeschreckte Demokraten recken, nach dem sie rufen:

Der Westen muss jetzt ...

Ja, was muss er denn? Sich Putin entgegenstellen. Der Ukraine helfen. Die freie Welt schützen. Also seine Pflicht tun.

Die Pflicht, der sichere Raum der freien Welt zu sein: von Ostmitteleuropa über den Atlantik bis zu den USA, der militärischen Schutzmacht, mitsamt Kanada und den Demokratien Mittel- und Südamerikas.

Aber gibt es diesen Westen überhaupt, dessen wir uns gerade in höchster Nervosität neu bewusst werden? Was hält diesen Westen eigentlich zusammen?

Heinrich August Winkler hat dazu das Schlüsselwerk verfasst: «Die Geschichte des Westens», von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert. Europas bedeutendster Historiker erzählt darin eine grosse Geschichte: Wie die Freiheit aus dem Widerstreit von geistlicher Gewalt und weltlicher Macht geboren wurde – aus der dialektischen Wechselwirkung von Kirche und Staat, zu der kein Geringerer als Jesus Christus die tiefe Weisheit beigetragen hatte: «Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist.»

Das weströmische Christentum entwickelte sich im Ringen um diese Wahrheit hin zu Humanismus und Reformation, zu Aufklärung und Französischer Revolution, zur amerikanischen Menschenrechtserklärung von 1776 und zur Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte der Französischen Revolution von 1789 – schliesslich zu Demokratie und Rechtsstaat, zu unserer westlichen Welt.

Der Welt, in der wir leben.

Es ist eine verwirrliche Welt. Voller Widersprüche. Widerspruch als Lebenselement. Gefährdung und Antrieb. Urgrund aller Entwicklung. Versuch und Irrtum, wie der Philosoph Karl Popper das Wirkungsprinzip der Demokratie definierte.
Wo aber Widerspruch herrscht, herrscht Unordnung. Ja, die westliche Welt ist unordentlich, nie fertig gedacht und darum nie fertig – allzeit offen für eine neue Zukunft, entlang der Antworten auf stets neu zu stellende Fragen: Wer hat recht, wer bekommt recht?

Da stehen wir nun und können nicht anders – als streiten.

In Putins Russland wird kaum gestritten; in Xi Jinpings China noch weniger. Manche Westler bewundern derlei Systeme. Nicht zuletzt Wirtschaftsmächtige, denen autoritäre Verhältnisse und diktatorische Allmacht nicht nur beim Geschäften nützlich erscheinen. Sie provozieren mit der Frage: Hat der Westen noch eine Zukunft? Oder braucht es mehr autoritäre Effizienz? Und weniger Demokratie?

Auch auf der anderen Seite des gesellschaftlichen Spektrums ist der Westen nicht wohlgelitten. Aus der linken Szene wird der Kapitalismus infrage gestellt: das freie Wirtschaften – die Triebfeder des innovativen Unternehmertums und des gesellschaftlichen Reichtums. Man schmäht den Westen als Kolonialmacht, die auf fremden Kontinenten Verheerungen angerichtet hat. Schliesslich sogar als Macht mit materiellen Interessen im Ukraine-Krieg: «Die einzige, die ein Interesse an diesem Krieg hat, ist die Bourgeoisie, die von Waffenlieferungen und kriegerischen Auseinandersetzungen profitiert», so klingt es aus der spätmarxistischen Ecke.

Das linksgrüne und feministisch-rassistische Bild des Westens verkörpert aktuell:

der alte weisse Mann.

Ja, so steht es um den Westen: Man darf ihn schmähen, verleumden, bekämpfen – und dazu seine Freiheit nutzen, seine Demokratie, seinen Rechtsstaat. Der alte weisse Mann verteidigt Freiheit und Recht derer, die ihn hassen.
Genau solche Zustände aber fürchten Russlands Putin und Chinas Xi. Denn die Freiheit ist ein Virus, gegen das es keine Impfung gibt. Die Untertanen sehnen sich nach diesem westlichen Lebensprinzip. Sie wollen freie Bürger sein.

In diesen Stunden hofft das freie Volk der demokratischen Ukraine auf die Macht des Westens. Sie soll dem Potentaten im Kreml die wirtschaftliche Basis entziehen. Mit Sanktionen, die auch die heute stinkreichen Plünderer Russlands treffen, die sich in London, Paris, Genf, Zug und Zürich seit Jahren des Wohlwollens und Wegschauens von Politik und Gesellschaft erfreuen. Den Oligarchen soll es an den Kragen gehen – den Finanznetzwerken, über die sie ihre trüben Transaktionen abzuwickeln pflegen. Russlands Macht- und Geldelite soll umfassend isoliert werden.

Die Schweiz jedoch will den europäisch-amerikanischen Sanktionskatalog nur marginal mittragen, ganz im Sinne ihrer Tradition: Die Schweiz ist neutral. Und wie der «Tages-Anzeiger» schreibt, «für Putins Oligarchen ein kleines Paradies» – Abermilliarden wohlversorgt auf Schweizer Bankkonten. Und 80 Prozent der russischen Rohstoffe werden in der Schweiz gehandelt.

Die Schweiz – Putins Oligarchen-Stützpunkt.

Fühlt sich die Schweiz noch als Westen?

Sie lässt sich seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges von ihm beschützen. Sie lässt es sich wohlergehen in dieser weiten und manchmal auch wilden freien Welt. Sie geniesst lustvoll und erfolgreich die Freiheit des kapitalistischen Wirtschaftens. Die Sicherheit des Westens lässt die Schweiz seit bald achtzig Jahren ihr ganz besonders demokratisches Gesellschaftsmodell leben.

Und jetzt ist sie plötzlich wählerisch mit ihrer Solidarität?

An der von Mussolini angeregten Münchner Konferenz 1938 wurden Hitler von den Westmächten England und Frankreich die sudetendeutschen Gebiete in den Rachen geworfen – sie durften «heim ins Reich», wie der Diktator prahlte. 1939, ein Jahr später, wurde die ganze Tschechoslowakei zum Opfer der Nazi-Aggression.

Die Schweiz stand dem schrecklichen Geschehen in Europa damals einsam gegenüber. Auch der territorialen Begierde Mussolinis: Der Diktator hatte Landkarten neu zeichnen lassen, auf denen die Südgrenze der Schweiz plötzlich am Gotthard gezogen war – das Tessin erklärte er damit zum Teil Italiens.

Bern war damals Kiew.

Daraus liesse sich lernen.


Die Welt in der Zeitmaschine
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Frank A. Meyer über Putin:Die Welt in der Zeitmaschine
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