Die amerikanische Gender-Philosophin Judith Butler formulierte in einem Gespräch mit dem Zürcher «Tages-Anzeiger» folgende Sätze: «Vielleicht ist dies ein Moment, in dem wir unsere Vorstellung davon, was Freiheit ist, überdenken sollten. Einige von uns sind es gewohnt, über Freiheit als persönliche Freiheit zu denken. Was aber, wenn unser soziales Zusammenleben die Grundlage unserer Freiheit ist?»
Die Freiheit überdenken?
Am Wahlparteitag der deutschen Grünen war der Ruf nach einer «Zweiten Aufklärung» zu vernehmen, flankiert von einer Warnung vor Kritik an der Wissenschaft.
Die Aufklärung ersetzen?
Die Freiheit, die wir laut Judith Butler überdenken sollten, ist Frucht der Aufklärung – die wir laut den Grünen mit einer neuen Aufklärung überwinden sollten.
Was ist die Essenz der aus grüner Sicht offenbar ungenügenden «ersten» Aufklärung? Es ist die Freiheit des Menschen: des einzelnen Menschen – des Individuums. Und es ist die Gleichheit des Menschen: des einzelnen Menschen – des Individuums.
Persönliche Freiheit und persönliche Gleichheit: das eine ist die Voraussetzung des anderen, das Zweite die des Ersteren.
Was dagegen ist die Freiheit der radikalen Neo-Feministin Judith Butler? Es ist eine Freiheit, die sich durch Gemeinschaft rechtfertigt, also nicht mehr individuell, sondern gruppenbestimmt: als Frauen, als Migranten, als Homosexuelle, als Transsexuelle, als People of color – eine Freiheit der Identitäten, eine Multikultur der Diversitäten. Das Gendern, eine eigens dafür erfundene Sprache mit Sternchen und Pausen mitten im Wort, erzieht die Bürger*innen durch Neu-Sprech und Neu-Schreib zum neuen korrekten Denken und Handeln.
Freiheit als soziales Verhalten.
Dazu zählt auch der Glaube an die Wissenschaft, wie ihn die Grünen fordern: Was die akademischen Autoritäten zu Umwelt und Gesellschaft sagen, ist nicht mehr der Kritik auszusetzen, sondern eins zu eins in Politik und Alltag zu verwirklichen. Wer sich den Geboten der Katheder-Autoritäten verweigert, wer gar grundsätzliche Zweifel hat an der grünen Weltrettungslehre, wird als Häretiker verstossen – in die rechte Ecke.
Eine wissenschaftlich verbrämte «Zweite Aufklärung» mit sozial definierter Freiheit wäre das Gegenteil der offenen Gesellschaft, die auf Gleichheit und Freiheit des Individuums gründet und nach dem Prinzip von Versuch und Irrtum funktioniert.
Es wäre eine säkulare Religionsgemeinschaft, die im Gegensatz zur westlichen Gesellschaft stünde, wie sie sich aus der religionskritischen und kirchenfeindlichen Aufklärung seit dem 18. Jahrhundert zum demokratischen Rechtsstaat entwickelt hat.
Das hatten wir doch schon: mit dem marxistischen Geschichtsdenken und seinem dialektischen Materialismus, einer wissenschaftlich verbrämten Weltanschauung, die sich im Klassenkampf austobte, als welt- liche Religion und politische Heilslehre.
Das Autoritäre ist das Risiko der Freiheit, ganz besonders in krisenhaften Zeiten, wenn die Freiheit anstrengend wird. Was soll da noch der Widerspruch? Was das Durcheinander von Meinungen, Einsichten und Absichten? Was politischer Streit?
Was soll die ganze wunderbare Anarchie der freien westlichen Gesellschaft?
An die Stelle der Gesellschaft tritt Gemeinschaft, schützend für jene, die dazugehören, die sich ihr unterworfen haben.
An die Stelle von Wahlen tritt Auswahl: mit proportional vorgegebenen Quoten zugunsten der diversen Identitäten auf dem Wahlzettel.
An die Stelle des selbstbestimmten politischen Bürgers tritt die verbindlich erklärte Weisheit der Wissenschaft.
Anstelle der Parlamente bestimmen Fachräte, Ethikräte und, wie gerade von den deutschen Grünen gefordert, Sonderministerien mit Vetorecht über Richtig und Falsch.
Akademikerregime statt Bürgerrepublik.
So könnte sie aussehen, die schöne neue Welt der Antiwestler – die zweite Aufklärung der klimabeseelten Grünen, die neue Freiheit der gendergetriebenen Feministinnen.
Das Sehnsuchtssystem der neuen linken Rechten.