Ja, Israel macht Fehler. Innenpolitisch. Aussenpolitisch. Vermutlich war auch die Behändigung von palästinensischen Wohnungen in Ostjerusalem ein Fehler. Allerdings werden sie von jüdischen Bürgern nicht ohne rechtliche Argumente für sich reklamiert. Der juristische Streit wird jetzt vor einem Gericht ausgetragen.
Ja, Israel ist ein Rechtsstaat. Mit einer funktionierenden und deshalb unabhängigen Justiz. Gerade muss sich der Regierungschef wegen des Vorwurfs der Korruption vor Gericht verantworten.
Ja, Israel ist eine Demokratie. Vor kurzem wurde gewählt. Ohne klares Ergebnis für eine Regierungsbildung. Vielleicht müssen die Wähler demnächst erneut an die Urne. Zwanzig Prozent von ihnen sind israelische Bürger arabischer Herkunft.
Ja, Israel ist ein Unikum in der muslimischen Welt des Nahen Ostens. Seit dreiundsiebzig Jahren gibt es diesen demokratischen Rechtsstaat, gegründet in den historischen Stammlanden der Juden.
Nach muslimischer Meinung soll es diesen demokratischen Rechtsstaat seit dreiundsiebzig Jahren nicht geben – nach Meinung der Staaten, die Israel direkt oder indirekt umgeben.
Ja, Israel ist ein Staat westlicher Werte, wurzelnd in westlicher Entwicklung, von der Aufklärung bis zur sozial-kapitalistischen Postmoderne. Die Kapitale Tel Aviv atmet die Luft der offenen Gesellschaft wie Zürich, Paris, Berlin, London, New York – republikanisch-freiheitliches Durcheinander, also Versuch und Irrtum in Politik, Wirtschaft, Kultur, deshalb auch beeindruckend erfolgreich.
Israel zählt – übrigens mit der Schweiz – zu den kompetitivsten Nationen der Welt.
Ist das auszuhalten für die Muslime, für die Nachbarn Israels, die ausser Öl und Gas und touristischen Luxusresorts kaum etwas anzubieten haben? Ist das auszuhalten für die Palästinenser, die ihren Lebensraum mit den wissenschaftlich-wirtschaftlichen Weltmeistern zu teilen haben – und beim Blick über die Grenze feststellen, was die dort können und sie nicht dürfen?
Nicht dürfen? Der Islam verhindert die Emanzipation von Frauen und Männern zu aufgeklärten und säkularen, zu eigenständigen und eigenverantwortlichen Individuen. Die Palästinenserinnen und Palästinenser dürfen nicht frei sein.
Es wäre Verrat an der Religion.
So bleibt Israel allein, ohne den natürlichen Austausch mit seinen Nachbarn, die ihrerseits interessiert sein müssten an den immensen Kompetenzen des jüdischen Staates. Das Alleinsein in feindlicher Umwelt, in vernichtungsbereiter Umwelt dauert nunmehr drei Generationen.
Und immer noch ist Israel eine funktionierende freiheitliche Demokratie: voller Debatten unter Demokraten – voller Kritik und Selbstkritik.
Welche Nation wäre das noch nach zwei grossen Kriegen, angezettelt von aggressiven Nachbarn, nach nie abreissender Bedrohung durch Terroristen von der Hisbollah über die Hamas bis zur iranischen Staatsführung, nach ständigem Gewaltgeschehen an der Grenze, nach militärischen Vergeltungsmassnahmen sonder Zahl, gelungenen wie misslungenen?
Das Volk von neun Millionen auf einem Territorium halb so gross wie die Schweiz und mitten im Feindesland gelegen lässt sich nichts gefallen – wohl wissend, dass jedes Zeichen von Schwäche die Vernichtung seiner Existenz zur Folge hätte.
Auch sind seine Feinde nicht nur im Umland angesiedelt. Sie vernetzen sich weltweit, vor allem in der Uno, deren Menschenrechtsrat Israel zwischen 2006 und 2021 neunzigmal verurteilt hat – Nordkorea dreizehnmal, China und Russland nie.
Hinzu kommen Feinde Israels in Europa, von linksliberal über grün bis linksextrem. Sie zogen diese Woche mit militanten muslimischen Migranten vor Synagogen und verbrannten Fahnen des verhassten Staates. Auch radikale Aktivisten von Friday for Future, das politische Vehikel der jungen Klima-Ideologen, reihten sich ein in die Phalanx gegen die nahöstliche Demokratie.
Ist es klassischer Antisemitismus, der da seine Bühne findet?
Es ist, neben Judenfeindschaft, auch Hass auf den Westen, der an Israel abreagiert wird: Hass auf die bürgerliche Freiheitswelt, dem Teile des rot-grünen Milieus huldigen – selbstverständlich unter ausgiebiger Nutzung eben dieser bürgerlichen Freiheiten.
In Tel Aviv flüchten derweil die Menschen in die Schutzräume, wenn die Raketen der Hamas einschlagen – ziellos und damit gezielt gegen Zivilisten. Berichtet wird in den europäischen Grossmedien akribisch über die Opfer von Israels Gegenschlägen, die ebenfalls Zivilisten treffen, worunter Kinder. Die Terrororganisation Hamas beutet die ungewollten Opfer israelischer Gewalt seit je zynisch aus: Die bösen Bilder sind ihr Propaganda-Sieg in einem Krieg, den sie nicht gewinnen kann.
Wer sich bemüssigt fühlt, empörte Kritik an der israelischen Politik zu üben, der setze sich in Zürich, Paris, Berlin, London oder New York vor ein Café und stelle sich vor – eine Hamas-Rakete schlägt ein. Und noch eine und noch eine und noch eine. Er stelle sich ferner vor, Gewalt und Hass bedrohten sein Land seit drei Generationen.
Wer wagte zu behaupten, sein demokratischer Rechtsstaat bliebe unter solchem Druck ein demokratischer Rechtsstaat – dreiundsiebzig Jahre unbeugsam und voller Leben?
Wie Israel!
«frank & frei»: Frank A. Meyer spricht über gute und schlechte Politiker