Mit einem einzigen Satz brachte Josef Stalin 1935 seine Verachtung für den Vatikan auf den Punkt: «Wie viele Divisionen hat der Papst?» Nun: Der Papst ist noch da. Stalin nicht.
Stalins Nachfolger in Geist und Gebaren wird den Stellvertreter Christi anders sehen als sein verehrter Vorgänger. Papst Franziskus kommt Putin nämlich gerade zu Hilfe, und zwar ebenfalls mit einer einprägsamen Formulierung. «Womöglich hat das Bellen der Nato vor Russlands Tür den Kreml-Chef dazu veranlasst, schlecht zu reagieren und Konflikte zu entfachen.»
Im Kreml ein «Chef», vor der Tür ein «bellender» Hund, der Vernichtungskrieg gegen die Ukraine ein «Konflikt» – und alles provoziert durch die Nato! So viel Verständnis aus dem Vatikan hat Putin mit Sicherheit nicht erwartet.
Wie aber muss der allerchristliche Satz in den Ohren der Menschen klingen, die in Butscha, Mariupol und Kiew russische Raketen in ihre Wohnhäuser einschlagen sehen? Wie wirkt die Weisheit des Bischofs von Rom auf die Menschen in den Kellern und den U-Bahn-Schächten? Auf die von Putins Soldateska vergewaltigten Frauen?
Seine Sätze beseelen diesmal nicht die einfachen, leidenden Menschen «urbi et orbi». Sie beseelen Dichter und Denker in Deutschland, die von der Päpstin des Feminismus, Alice Schwarzer, hinter einem offenen Brief versammelt wurden. Die Buchschreiber und Bescheidwisser fordern ganz im Geiste von Franziskus, der Westen möge aufhören, vor Russlands Tür zu bellen: Schluss mit der Lieferung schweren Kriegsgeräts an die verzweifelt kämpfenden Ukrainer! Der Zürcher «Tages-Anzeiger» nennt die Epistel einen «Aufruf zur Kapitulation».
Auch der Schriftsteller Bernhard Schlink, bekannt durch seinen wundersamen Roman «Der Vorleser», liefert einen deutschen Satz zum ukrainischen Drama: «Weder Russland noch die Ukraine werden erreichen, was sie erreichen wollen.» Aber was will die Ukraine «erreichen»? Doch lediglich die Existenz ihrer Nation in ihren eigentlich völkerrechtlich garantierten Grenzen – die der Kriminelle im Kreml gerade mit aller Waffengewalt zu vernichten sucht.
Wie ist es erklärbar, dass sich deutsche – westliche – Intellektuelle in gleiche politische Distanz zur Ukraine wie zu Russland begeben?
Vielleicht hilft ein Blick zurück in die Zeit des Kalten Krieges, in die Nachkriegsjahre der Sowjetunion: 1945 galt die Rote Armee als Siegerin über Hitler, als Befreierin Deutschlands, als neue Weltmacht. Sie hatte im «vaterländischen Krieg», wie Stalin den vier Jahre dauernden Kampf gegen die Wehrmacht nannte, die meisten Menschen verloren: 26 Millionen, davon nicht weniger als 17 Millionen Zivilisten.
Der Sieg über Deutschland bedeutete allerdings gleichzeitig die Unterjochung des östlichen Mitteleuropas inklusive Ostdeutschlands: Stalin verschob die Grenze der UdSSR mit der Wucht seines Warschauer Pakts an die Grenze des Westens und an das westliche Bündnis der Nato – vom Balkan im Süden bis zum Baltikum im Norden.
Die unterworfenen Nationen dazwischen entschwanden aus dem Blickfeld – oder sie störten! Denn ihr Aufbegehren gegen die Kreml-Knute brachte die Friedensordnung des Kalten Krieges ins Wanken: 1956 der Ungarn-Aufstand, 1968 der Prager Frühling, 1980 Solidarnosc in Polen. All diese dramatischen Ereignisse sind verbunden mit den Namen ihrer Anführer: Imre Nagy, Alexander Dubcek, Lech Walesa. Keiner von ihnen eroberte die Herzen der westeuropäischen Linken. Diese verschanzte sich hinter ihrer Kriegsfurcht: Nur nicht die Sowjetunion provozieren!
Auch schwang die späte Hoffnung auf einen «Dritten Weg» des Sozialismus mit, den man sich auf dem Balkan vom sowjetkritischen Führer Tito erhoffte. Der «Dritte Weg» war die Absage an den kapitalistischen Westen im Allgemeinen und an die Nato im Besonderen – ein links-intellektueller Wunschtraum der Nachkriegs-Existenzialisten um Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir, später der 68er um Rudi Dutschke, schliesslich heute so mancher linker Klimaschützer und Kapitalismus-Kritiker.
Die linke Befindlichkeit, die von den Moskau-Abtrünnigen während des Kalten Krieges nichts wissen wollte, wabert weiter. Einst ächtete man Arthur Koestler, Raymond Aron, Manès Sperber; heute begegnet man dem Widerstand der Ukraine mit gereizter Distanz.
Die Worte des Papstes und die Zeilen der deutschen Briefeschreiber über eine westliche Mitverantwortung für den Ukraine-Krieg erschallen frei im freien Westen. Dessen Freiheit jedoch garantieren die USA, im aktuellen Fall der erprobte Demokrat Joe Biden, der von Anbeginn entschlossen gegen Putin handelte – und auch den Schutz des Vatikans nicht einfach der Schweizergarde überlässt.
Der Brunnen der linken Vergangenheit ist tief. Zugleich ist er fatal flach.