Frank A. Meyer – die Kolumne
Der Wert des Lebens

Publiziert: 23.05.2020 um 23:47 Uhr
Frank A. Meyer

Samih Sawiris, Investor in Andermatt, beklagt die Corona-Massnahmen des Bundesrats: «In der Schweiz gehen Milliarden von Franken verloren, damit es einige Hundert Tote weniger gibt!»

Der Resort-Erbauer entstammt ­einer der reichsten Familien Ägyptens, er ist selbst Milliardär. Welche Milliarden liegen ihm so sehr am Herzen, dass er dafür ­einige Hundert tote Schweizer in Kauf nehmen würde?

Menschenopfer für Milliardenvermögen?

Ist dies eine allzu böse Schlussfolgerung aus dem belehrenden Satz des Wohltäters von Uri? Die Bürger dieses Kantons würden wohl seinen Hut grüssen, liesse er ihn in Altdorf auf einen Pfahl hängen.

Der «Tages-Anzeiger» versah ­Sawiris mit dem respektvollen Begriff «Kritiker» und berech­nete eilfertig «den Wert eines ­Menschen in Franken». Immerhin befielen das Zürcher Blatt bei diesem Unterfangen Zweifel: «Bringt uns das ­weiter?»

In ihrer Recherche auf Leben und Tod ­bieten die Journalisten weitere Berechnungen zum Wert des Menschen an: beispielsweise die von Gesundheitsökonom Stefan Felder oder von Avenir-Suisse-Wirtschaftsdenker Lukas Rühli. Auch vergleichen sie Corona-Massnahmen mit Lawinenüberbauungen und Leitplanken.

Was kostet ein Leben? Was kostet ein Tod? Güterabwägung nennt sich so etwas.

Ist der Mensch ein Gut? Eine Sache? Ein Objekt der Ökonomie, dessen Wert sich ­bestimmen lässt – also auch dessen Wert­losigkeit? Ist ein Mensch, der schon länger lebt und dessen Lebenserwartung ent­sprechend kürzer ist, von geringerem Wert als ein junger?

Solche Kalkulationen werden angestellt, um die Kosten einer Pandemie abzuschätzen, deren Auslöser ebenso unbekannt wie unerkannt und unberechenbar Menschen befällt und Gesellschaften verheert – völlig anders als Lawinenniedergänge oder ­Verkehrsunfälle.

Wer aber diskutiert so? Wer befindet da mit lässigloser Zunge über den Geldwert von älteren Menschen und über den ökono­mischen Sinn von «einigen Hundert Toten»?

Stellen sich die Ökonomiehelden Felder, Rühli und Sawiris beim Rechnen mit ­heissem Kopf auch mal vor, wie es wäre, selbst zu den volkswirtschaftlich als sinnvoll erkannten «einigen Hundert Toten» zu ­zählen?

Mein engster Freund Marco Solari lag mit Corona auf der Intensivstation. Aus dem Spital rief er mich an, zu schwach, um mehr als eine Minute zu sprechen: «Frank, ich weiss nicht, ob ich den Abend noch erlebe.» Er hat – nach schrecklichen Tagen des Kampfes – überlebt. Inzwischen ist er ­wieder gesund. Und ganz der Alte.

Marco Solari ist 75 Jahre alt. Hat Sawiris ihn gemeint? Steckt er in seiner Rechnung von Toten, die zum Wohle der Wirtschaft hinzunehmen wären?
Ich höre schon den Protest: Doch nicht er! Doch nicht der Präsident des Internationalen Filmfestivals von Locarno! Doch nicht diese herausragende ­Gestalt der schweizerischen­ Gesellschaft – der Elite!

Wer ist eigentlich gemeint mit den «einigen Hundert Toten»?

Marco Solari zählt zu meinem engsten Lebenskreis. Sein Wert ist der Wert als Freund – unschätzbar. Hat er auch noch ­einen ökonomischen Wert? Liegt sein Wert als bedeutender Prominenter höher als der ­meiner Putzfrau?

Des Menschen Wert ist sein Sein – sein Gestern, sein Heute, sein Morgen. Sein Leben gehört ihm allein. Es steht nicht zur Ver­fügung. Keine Mehrheit hat ­da­rüber zu entscheiden, kein Milliardär, kein Despot, kein Diktator.

Zur unendlich kurzen Spanne Zeit, die der Mensch von Geburt bis Tod der Unendlichkeit abtrotzt, stellt Martin Heidegger die frag­mentarische Frage: «Gibt es …?» Der Existenzialphilosoph meint damit das Sein des ­Menschen. Seine Antwort: «Es gibt.»

Des Menschen Sein ist die Voraussetzung für das Sein überhaupt, denn allein der Mensch stellt die Frage nach dem Sein. ­Wodurch das Sein erst denkbar und ­dadurch Wirklichkeit wird.

Das Da-Sein des Menschen ist der Wert an sich.

Und so spricht Friedrich Nietzsches Zarathustra in der Morgenröte zur Sonne: «Du grosses Gestirn! Was wäre dein Glück, wenn du nicht die hättest, welchen du leuchtest!»

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