Frank A. Meyer – die Kolumne
Der tüchtige Sergio

Publiziert: 28.04.2024 um 00:02 Uhr
Foto: Antje Berghaeuser
Frank A. Meyer

Wie sagt man, wenn man sich eine Chance nicht entgehen lassen will: «Die Gelegenheit beim Schopfe packen.» Solch eine Gelegenheit bietet sich dieser Tage im Zusammenhang mit Sergio Ermotti. Ihn gilt es beim Schopf zu packen, wobei seine stets akkurate Frisur auf keinen Fall zerzaust werden soll, umgibt ihn doch die Aura des schönsten Bankers zwischen Zürich und New York. Schwärmer schwärmen gar von einem George Clooney der internationalen Finanzszene. 


Der charmante Tessiner Sergio Pietro Ermotti ist ein Simpatico, früher war er Lehrling des kaufmännischen Berufes, heute ist er CEO der Weltbank UBS – er hat sich also hochgedient durch Fleiss und Seriosität, und zwar ohne auf diesem Weg Schaden anzurichten, ganz im Gegenteil: Bisher war Ermotti ein Segen für sein Kreditinstitut, das er in heiklen Zeiten auf solidem Kurs gehalten hat. Wobei gerechterweise hinzuzufügen wäre, dass ihn der solide deutsche Bankmann Axel Weber einige Jahre als Verwaltungsratspräsident begleitete.

Eingedenk solcher Leistungen ist gegenüber Sergio Ermotti auch dann eine respektvolle Distanz zu wahren, wenn laut und deutlich und voller Empörung über die 20 Millionen Franken geschnödet wird, die in der Schatulle des Tessiners landen können, sollten sich die Geschäfte der UBS zum Allerbesten entwickeln.

20 Millionen – wofür?

Diese Frage stellt sich derzeit die ganze Schweiz, vom Sanitärinstallateur bis zum Philosophie-Professor. Der aktuell amtierende UBS-Präsident Colm Kelleher versuchte, sie zu beantworten: «Er hat den schwersten Job in der Bankenindustrie.»

Da fährt dem Sanitärinstallateur der Schmerz in den gebeugten Rücken, dem Professor fällt die Brille von der Nase.

Der ungelenke Satz des UBS-VR-Vorsitzenden ist eine arge Untertreibung. Wer die Aussicht hat, ein Jahresgehalt von 20 Millionen zu kassieren, der erfüllt nicht nur den «schwersten Job in der Bankenindustrie», sondern den schwersten Job weit über diese Branche hinaus. Denn welcher schwerere Job ist denkbar, für welchen stünde dessen Inhaber mehr Geld zu?

Aber darf man den strahlenden Banker mit dem schwitzenden Handwerker vergleichen? Hat des einen Arbeitswelt überhaupt etwas zu tun mit des andern Arbeitswelt? Gut, beiden steht Lohn zu – für Leistung. Die Leistung des Handwerkers kann jeder sehen. Wie steht es mit der Leistung des Bankers?

Sergio Ermotti ist das personifizierte Versprechen, das sich in drei Wörter fassen lässt: Alles kommt gut. Gemeint ist damit das ihm anvertraute Geld der Bankkunden. 

Überhaupt ist das Geschäft des tüchtigen Sergio ein Geschäft mit nichts als diesem Versprechen, denn bereits die Ursubstanz der Bank ist ein Versprechen: das Geld an und für sich.

Hundert Franken sind hundert Franken – versprochen! Hundert Franken sind folglich das, was man damit kaufen kann – die Einlösung des Versprechens. Der Geldschein ist nichts als eine Behauptung, nichts als eine berührbare, haptisch erfahrbare, irgendwie ins Konkrete verwandelte Abstraktion – ein Paradox.

Geld ist ein Nichts, solange es nicht verwandelt wird – in ein Gut.

Dieses Nichts ist das Geschäft des Bankers – in der Tat ein schweres Geschäft. Denn was hat der Banker geleistet, wenn er abends erschöpft nach Hause kommt? Er hat Geld versprochen – in der Regel mehr Geld, auf jeden Fall gleich viel, wie ihm der Kunde anvertraute.

Wie fühlt sich dieses Tagwerk an? Kann sich das Nichts überhaupt irgendwie anfühlen? Die Seelenpein des Bankerjobs lässt sich nur erahnen. Und verdrängen – durch ein Surrogat, das einen Wert suggeriert, der mehr ist als Geldwert:

Macht.

Ja, Sergio Ermotti verfügt über Macht. Er waltet über Wohl und Wehe von Unternehmen – mit einer Bank von der Grösse der UBS sogar über Wohl und Wehe einer Volkswirtschaft. Mithin besitzt er Macht über die Politik, die doch, wie man in diesem Land zu meinen beliebt, ganz allein vom Volk ausgehen sollte.

Das Betrübliche an diesem Machtgeschäft: Ein Banker kann nach Feierabend nicht berühren, was er geschaffen hat, wobei der Feierabend wohl ohnehin entfällt in diesem «schwersten Job in der Bankenindustrie». Er kann sich nur in die Brust werfen, weil er mächtig ist. 


Die unerfüllte Sehnsucht des Bankers nach dem Eigentlichen drückt sich vortrefflich im Begriff «Bankenindustrie» aus. «Industrie» hat zu tun mit dem ganz konkreten Erschaffen von Gütern. Industrie, das ist die Uhrenproduktion oder die Herstellung von Nahrungsmitteln oder die Entwicklung von Impfstoffen gegen die Covid-Pandemie. Der industriell Tätige und Verantwortliche, ob Patron oder Manager, hat am Abend etwas in der Hand: eine betrachtbare, fühlbare, verkaufbare Leistung – die er sogar der Familie vorzeigen kann.

Ja, wer in Büren an der Aare die weltbesten Uhrenfedern entwickelt und produziert, die dann Millionen von Rolex-Uhren präzise ticken lassen – der ist ein Industrieller, ein Patron, ein Stolz der Schweiz.

Verdient er im Jahr zwanzig Millionen? Sie wären ihm zu gönnen.

Man gönne sie auch Sergio Ermotti.

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