Frank A. Meyer – die Kolumne
Denken und Gedenken

Publiziert: 01.08.2020 um 23:31 Uhr
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Aktualisiert: 01.08.2020 um 23:53 Uhr
Frank A. Meyer

Vielleicht ist der 1. August ja ein ­Anlass, 80 Jahre zurückzublicken, auf den Frühsommer 1940, die wohl dramatischste Zeit für die Schweiz im 20. Jahrhundert. Und vielleicht ist es nützlich, ­einen grossen Historiker sprechen zu ­lassen. Golo Mann, Sohn von Thomas Mann, schreibt in seinem autobiografischen Buch «Erinnerungen und Gedanken» zu den spannungsvollsten Tagen ­jenes Jahres Folgendes über unser Land:

«Als Deutschland am 10. Mai 1940 den Krieg in West-Europa entfesselte, lebte ich in der Schweiz. Diese kleine Republik erwartete stündlich das Schicksal, das Bel­gien und Holland ereilt hatte; sie glich ­einer belagerten Festung der Humanität. Die Männer vom zwanzigsten bis zum fünfzigsten Lebensjahr standen im Militärdienst, an den Grenzen. Alle öffent­lichen Gebäude waren mit Drahtver­hauen, Palisaden und Maschinengewehren geschützt, alle Brücken unterminiert. Tankfallen durchkreuzten das Land, die lieblichen Berge um Zürich konnten jeden Augenblick in feuerspeiende Front­linien ver­wandelt werden. Überall wurde gearbeitet, geschossen, exerziert; Wissenschaft, Reichtum, Liebe und Hass der Schweizer waren im Zustand höchster, leidenschaftlicher Tätigkeit. Damals begriff ich die Bedeutung ­solcher Worte wie ‹Vaterland› und ‹Gemeinschaft› – und was es heisst, von ihr ausgeschlossen zu sein.»

Der Vater Thomas Mann sorgte sich im ameri­kanischen Exil um seinen Sohn. Am 15. Mai 1940 heisst es in seinem Tagebuch: «Man rechnet nach Stunden mit der Invasion auch der Schweiz.»

Ja, so war es zu jener Zeit. Und so wurde es von allen empfunden. Angst beherrschte die Schweiz. Aber auch Entschlossenheit.

Mein Vater erkundete damals den Wald am ­Jurahang oberhalb von Biel. Er fand eine Höhle, in die er Wolldecken und Konserven brachte – ein Fluchtort für die Familie, sollten die Deutschen durch den Jura ins Mittelland stossen, um die «Maginot-Linie», das französische Befes­tigungswerk, im Süden zu umgehen. Im Norden hatten die Nazis aus dem gleichen Grund Bel­gien und die Niederlande überfallen.

Am 25. Juli versammelte General Henri Guisan alle hohen Offiziere auf dem Rütli. Der «Rütlirapport» machte Geschichte, als Demonstra­tion des Willens zum Widerstand.

Guisans ­Appell: «Es geht um die Existenz der Schweiz. Hier werden wir als Soldaten von 1940 aus den Lehren und dem Geist der Vergangenheit Kraft schöpfen, um Gegenwart und Zukunft des ­Landes entschlossen ins Auge zu fassen und den ­geheimnisvollen Ruf zu vernehmen, der von ­dieser ­Wiese ausgeht.»

Die Schweiz blieb verschont. Dieses Glückes gilt es zu gedenken.

War es die Leistung einer wehrhaften Schweiz, deren Besetzung für die Wehrmacht allzu grossen militärischen Aufwand bedeutet hätte? War es das Resultat einer wirtschaftlich nützlichen Schweiz, die für die Nazi-Diktatur produzierte und als Devisen-Drehscheibe diente? War es die Folge eines Aufschubs nach dem Motto: «Die Schweiz, das kleine Stachelschwein, nehmen wir auf dem Rückweg ein»?

Es war einfach so. Eine Demokratie mit freien Bürgerinnen und Bürgern mitten im ­nazistisch-faschistischen Europa – umzingelt von mörderischen Mächten.

Unausweichlich ist dies aber auch Anlass zum Gedenken an Schweizer Schuld: an die Rückweisung von Zehntausenden Juden an der Grenze – was nichts anderes bedeutete, als dass diese Menschen der Nazi-Vernichtungsmaschinerie ausgeliefert wurden.

Gedenken in Scham.

So ist der Stolz darauf, dass die Schweiz dem ­Totalitarismus widerstanden hat – und zwar auch im Innern, in den eigenen politischen Verhältnissen –, ein demütiger Stolz: eher ein staunendes ­Erinnern.

Muss es noch sein, dieses Staunen?

Vor 80 Jahren stand die Schweiz in ­ihrer gefährdeten Einsamkeit für das ganz andere Europa. Sie hat daraus ein ­po­litisches Rezept gemacht: Europa zu sein, ohne wie Europa zu sein. Doch die ­Realität des Kontinentes hat dieses ­Bestreben in sein Gegenteil ­verkehrt: nicht Europa zu sein.

Der europäische Literatur-Denker und Schweizer Patriot Peter von Matt sagt es in einem Interview mit der «NZZ am Sonntag» so: «Der 1. August ist der Tag, an dem sich die Schweiz selber feiert und sich im Gegensatz sieht und fühlt zur Welt. Das ganz Andere der Welt, das ist die Schweiz. Und Corona ist der dras­tische Gegenbeweis zu diesem tollen Phantasma, wonach das Land absolut singulär ist und etwas, das es sonst nicht gibt. Wer hier ist, so glaubt man, der ist eigentlich in einer Art Paradies. Dann kommt das Virus und sagt: Hoppla, ­alles ist ganz ­anders. (...) alle und ­alles trifft es gleich.»

In der Tat, die Schweiz ist nicht anders. Sie ist nicht das nicht-europäische ­Europa. Sie ­gehört zu diesem Europa, das ein gemeinsames Gedeihen in Freiheit ­sichert, das heute der Welt-Hort der Freiheit ist – ge­rade wegen der schrecklichen Erfahrungen jener Zeit, als das Schicksal die Schweiz zum ein­samen freien ­Europa machte.

Die Schweiz kapriziert sich seither auf diese ­Fügung wie auf eine Heldenrolle – die ihr nie ­zukam, auch nicht in jenen düstersten Tagen 1940. Doch statt kapriziösen Umgangs mit ­Europa wäre längst Engagement für Europa ­fällig. Aktuell beispielsweise eine Beteiligung an den Corona-Hilfskrediten, beispielweise ein Mitdenken bei der Asylpolitik, beispielsweise ein Mitwirken an einer Digitalstrategie. Es sind der Felder viele, auf denen das bewährte, das tüchtige Alpenland an Europas Erfolg mit­rackern könnte.

Die Schweiz hat grosses aktuelles Wissen ­an­zubieten – und tiefe historisch-kulturelle ­Er­fahrung.

Das wäre zu bedenken – voller Stolz – beim ­Gedenken an 1940.

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