Frank A. Meyer – die Kolumne
Denk mal

Publiziert: 28.06.2020 um 07:20 Uhr
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Aktualisiert: 28.06.2020 um 17:09 Uhr
Frank A. Meyer

Dass der westliche Kolonialismus den unterworfenen Nationen und Kulturen schlimmen Schaden zugefügt hat, ist eine geschichtliche Tatsache. Genauso trifft zu, dass die Wirtschaft ebendieses Westens von der Ausbeutung der Kolonien profitierte.

Die Denkmäler der Kolonialhelden, die sich in vielen Fällen auch noch am ­Sklavenhandel bereicherten, werden also nicht ohne Grund gestürzt – oder beschmiert wie die Statue des bri­tischen Kriegspremiers Winston Churchill in London.

Gerade der grösste politische Held des Zweiten Weltkrieges steht für die Wider­sprüchlichkeit so vieler Figuren aus den finsteren Zeiten des Kolonia­lismus: Churchill (1874–1965) vertrat den ­britischen Herrschaftsrassismus, er hielt nicht viel von den Kolonial­völkern, er repräsentierte mit seinem Denken und Handeln das Kolonial­imperium par excellence: Nie ging in seinem Weltreich die Sonne unter.

Doch zwischen 1940 und 1945 war Churchill auch der unbeugsame Kämpfer gegen das Nazireich, den Inbegriff rassistischer Ideologie, mörderisch prak­tiziert gegen die Juden, die Behinderten, die Sinti und Roma, die Slawen, die Völker im ­Osten Europas – alles «Geziefer», alles «Untermenschen», alles «unwertes Leben».

Mit Churchill als Premierminister widerstand London sämtlichen Versuchungen und Ver­suchen, Hitler durch politische Zugeständnisse zu besänftigen. Verraten sogar von Stalin, der sich heimlich mit Hitler verständigte, bis dieser auch die Sowjetunion überfiel, kämpfte das Inselreich in einer heroischen Luftschlacht gegen eine Invasion durch die Wehrmacht. 1944 legten die Landungsboote der Alliierten zur Rückeroberung Europas von der englischen Küste ab.

Churchills zum Victory-Zeichen gespreizte ­Finger, die er in verzweifelter Lage seinen Landsleuten und der ganzen Welt entgegenreckte, ­signalisierten Entschlossenheit und Mut des Kriegers im Kampf für die Demokratie der westlichen Welt.

Ja, Winston Churchill ist der grösste Freiheitsheld des 20. Jahrhunderts. Muss sein Denkmal gestürzt werden?

Im Begriff «Denkmal» steckt die Aufforderung:

Denk mal!

Es gibt Anlass, diesem Imperativ Folge zu leisten. Vor allem für die Kinder des westlichen Wohlstandes, die sich so sicher wähnen in ­ihrem Urteil über die Vorväter, Vorvorväter und Vorvorvorväter, die sie mit Abscheu auch als «Weisse» schmähen, ohne einen Ge­danken daran zu verschwenden, dass die Hautfarbe nichts mit den Erfolgen und Sünden der ­westlichen Welt zu tun hat – ja dass jedes ­Argument mit dem Hinweis auf die Haut­farbe eines Menschen rassistisch ist.

Im 19. Jahrhundert – Blütezeit der fatalen ­Triumphe des modernen Kolonialismus – galt die zivilisatorische Überlegenheit Westeuropas als Selbstverständlichkeit, trat sie doch scheinbar unwiderlegbar zutage, weil zu besichtigen in den Kolonien. Dieses Gefühl, eine zurück­gebliebene Welt zu deren Wohl zu kujonieren und zu erziehen, schlug sich im Rassismus ­nieder. Es war der ­primitivste Rechtfertigungsversuch für das unermess­liche Unrecht, das schwarzen und gelben und roten, das nichtweissen Menschen im Namen einer westlich-christlichen Weltherrschaft ­angetan wurde.

In diesem paternalistischen Selbstverständnis standen viele Generationen bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts der «Dritten Welt» gegenüber. Nur eine Minderheit – eine immer grösser werdende Minderheit – kämpfte gegen das unsägliche Selbstbild des Westens.

Auf welcher Seite hätten die jungen Denkmalstürzer von heute gestanden, wären sie zu ­Kolonialzeiten erzogen worden? Hätten sie ­gegen die Unterdrückung der Koloni­sierten gekämpft? Oder vielleicht doch lieber von den Segnungen der Ausbeutung und Entrechtung ­anderer Völker profitiert?

Denk mal!

Die protestierende Jugend marschiert zu ihren Demos in schicken Sneakers auf, in engen T-Shirts, lockeren Blüschen, alles von Markenherstellern, durch Influencer als Outfit des gerade angesagten Netzgeistes verordnet. Doch woher stammt die preisgünstige Kinder- und Jugenduniform? Wo lassen Puma, GAP, H&M, Esprit, Zara, Levi Strauss, Zebra Fashion produzieren? In der Schweiz? In EU-Europa?

Was die bewegten jungen Antikolo­nialisten markenbewusst vom Kleiderständer ihrer Lieblingsgeschäfte in die Einkaufstasche packen lassen, wird in «kostengünstigen», also armen Ländern produziert, zum Beispiel in ­Bangladesch, zum Beispiel von jungen Frauen, oft noch Kindern, zu Stundenlöhnen, die jeder westlichen – jeder «weissen» – Moral spotten, und das zwölf bis 16 Stunden am Tag, oft ­sieben Tage in der Woche, ohne Fe­rien, ohne Sozialleistungen, ohne Kündigungsschutz:

Sklavinnen und Sklaven der westlichen ­Jugend-Protestler.

Ja, so kompliziert liegen die Dinge. So kom­pliziert lagen sie auch zu Zeiten der Kolonialhelden, die jetzt vom Sockel gestürzt werden sollen. Gestürzt von jungen Konsum-Kolonialist*innen.

Kaufen die antikolonialistischen Recht­haber*innen dieser Tage ihre Sneakers, T-Shirts und Blüschen freiwillig teurer ein, um sich nicht an der Ausbeutung so vieler junger Menschen in der armen Welt zu beteiligen?

Rasch ist der Einwand zu hören, die Armen der armen Völker hätten dank Nachfrage der westlichen Fashion-Welt doch immerhin ­Arbeit! Derlei dürftige Rechtfertigungen hatten auch die klassischen Kolonialherren stets zur Hand.

Die Protestjugend dieser Tage wird vergöttert von ihrer linksliberalgrünen Elterngene­ra­tion, deren Hohepriester die Redaktionen ­regieren – in der Regel wohlbestallte und moralge­sättigte Bourgeois. Müsste man ihren puber­­tär-bewegten Kindern nicht längst ein Denkmal errichten?

Eines mehr zum Stürzen.

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