Womöglich wäre ein Satz von Willi Ritschard hilfreich: «Es sind die kleinen Leute, die den Rechtsstaat nötig haben, nicht die Mächtigen.»
Mit den «kleinen Leuten» meinte Ritschard, von 1973 bis 1983 sozialdemokratischer Bundesrat, die Menschen, für die er sich sein politisches Leben lang einsetzte; mit den «Mächtigen» meinte er diejenigen, deren Tun und Lassen er per Recht und Gesetz zu zügeln trachtete.
Der legendäre «Willi» wäre heute hundert Jahre alt. Weshalb ist sein Satz zum Rechtsstaat aktuell?
Die Schweizerische Volkspartei zielt mit ihrer Selbstbestimmungs-Initiative auf den Ausstieg der Schweiz aus dem Völkerrecht. Dieses Völkerrecht nämlich sei «fremdes Recht», ausgeübt durch «fremde Richter». Deshalb dürfe in Zukunft allein Schweizer Recht zwingendes Recht sein. Internationale Verträge, die diesem nationalen Recht widersprechen, müssten neu verhandelt oder gekündigt werden.
Das klingt verführerisch vaterländisch. Würde der Rechts-Rigorismus der SVP Realität, befände sich die Schweiz ab sofort rechtlich auf dem Kriegspfad mit all den Nationen, die sich aufs Völkerrecht verständigt haben.
Die tapfere kleine Schweiz gegen die böse grosse Welt!
Ein wunderhübsches Bild. Um es mit Mythen zu schmücken, fehlen nur noch Tell und Gessler. Das international ausgehandelte Recht als Hut, den die Eidgenossen nicht länger grüssen wollen... Wie aber verhält es sich wirklich mit dem Völkerrecht? Die Schweiz ist in rund 4000 völkerrechtliche Verträge eingebunden. Die meisten betreffen die Wirtschaft. Präziser gesagt: Sie betreffen die Freiheit des Schweizer Wirtschaftens, dem sie Sicherheit durch Recht verleihen.
Soll künftig in der Verfassung stehen, dass sich die Schweizerische Eidgenossenschaft nur noch je nachdem an abgeschlossene Verträge hält? Soll die Verfassung das finstere Signal in die Welt senden, für die Freiheitsnation Schweiz seien auch die Menschenrechte kein Tabu mehr?
Das Völkerrecht ist der globale Rechtsstaat, der sich sukzessive herausbildet: der Schutz von Willi Ritschards «kleinen Leuten» durch rechtliche Zügel, die den Mächtigen angelegt werden. Die Schweiz, abhängig vom Handel mit dieser total vernetzten Welt, zählt zu den kleinen Leuten. Sie hat den Rechtsstaat nötig – um frei zu sein. Die Mächtigen setzen ihre Interessen gerne auch ohne Völkerrecht durch – wofür der Macht- und Rechthaber Donald Trump das aktuelle Beispiel gibt.
Damit nicht allein die Weisheit des Sozialdemokraten Ritschard aus dem 20. Jahrhundert den heftig geführten Abstimmungskampf erleuchtet, sei hier ein kluger Kopf aus dem Wirtschaftsmilieu des 21. Jahrhunderts zitiert. Peter Grünenfelder, Direktor des Thinktanks Avenir Suisse, sieht die Lage der Schweiz mit ökonomischem Scharfblick: «Wir dürfen nicht vergessen, dass wir auf ein verlässliches, internationales Regelwerk angewiesen sind. Ich würde das die vierte Staatsebene nennen, neben unseren drei, Gemeinden, Kantone und Bund.»
Ja, die Gemeinden sind frei, weil sie geborgen sind im Rechtsrahmen der Kantone, wie die Kantone frei sind, weil sie den Rechtsrahmen des Bundes geniessen.
Genauso ist die Schweiz frei im Rechtsraum des Völkerrechts.