Frank A. Meyer – die Kolumne
Chiasso

Publiziert: 29.10.2023 um 00:10 Uhr
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Aktualisiert: 29.10.2023 um 08:31 Uhr

Alle reden vom Wahlsieger SVP, weit über die Landesgrenzen hinaus. Die Schweizer Rechtspopulisten, Anti-Europäer aus tiefster Seele, sind plötzlich europaweit populär. Ein Aufseufzen geht durch die EU-Medien: Sogar die Schweizer, diese direktdemokratischen Tugendbolde, wählen begeistert Rechtsaussen – nicht nur wir Deutsche, Franzosen, Italiener.

Die «Süddeutsche Zeitung» («SZ»), politischer Taktgeber des Zürcher «Tages-Anzeigers», zitiert schweizkundig den SVP-Präsidenten Marco Chiesa: «Kommen sie mal mit mir in den Grenzort Chiasso, da wollen sie nicht wohnen.» Die «SZ» kommentiert den Chiesa-Kommentar so: «Ein Politiker als Sprüche-Automat. Und es funktioniert.»

Aber was hat da eigentlich funktioniert? Das Volk hat funktioniert. So formuliert man von oben herab. Auch die helvetischen Sozialdemokraten können das: «Besorgniserregender Rechtsrutsch.» Wer ist da gerutscht? Das Volk ist gerutscht.

Also ist das Volk schuld am rechten Triumph. Jedenfalls nicht die linken Parteien in Europa. Schon gar nicht und zuallerletzt natürlich die SPS, die ja dermassen weit links aussen politisiert, dass sie – so die Hoffnung – irgendwann mal auf das arbeitende Volk stossen müsste. Doch Linksaussen ist nicht das Volk. Links aussen fläzt sich die Studenteska in den Hörsälen, wenn sie nicht gerade mit Klima-Kleberismus oder NGO-Antikapitalismus beschäftigt ist.

Die Arbeitnehmer befinden sich woanders – sie suchen Zuflucht irgendwo rechts: in Deutschland bei Alice Weidel, in Frankreich bei Marine Le Pen, in Italien bei Giorgia Meloni, in der Schweiz bei der SVP.

Ist solches Wählerverhalten unanständig?

Freilich hat die Schweizerische Volkspartei im Wahlkampf erneut belegt, dass sie kaum Grenzen nach rechts kennt. Die Antirassismuskommission glaubte, die polemisierende Partei rügen zu müssen – was in der Sache treffsicher war, wenngleich im Auftritt anmassend. Darf man, wie es die Linke liebend gerne tut, von rechtsextremen Tendenzen der SVP reden? Man darf.

Und die Bürger «dürfen» trotzdem SVP wählen, also von SPS-Genossen zum Blocher-Gefolge mutieren? Das Motiv zu dieser Mutation hat Marco Chiesa in seiner schlichten Argumentation genannt: Chiasso – der Grenzort, an dem besonders viele Migranten in die Schweiz drängen.

Keiner wolle dort wohnen, behauptet der immerhin ortskundige Tessiner. Die Einwanderer seien für das Städtchen und seine Bewohner ein Ärgernis, weil der schweizerischen Leitkultur ungewohnt, die da lautet: Anstand auf der Strasse, Respekt im Umgang miteinander, also gesittete Bürgerlichkeit.

Überall in Europa, wo Migranten darauf beharren, ihre eigene Kultur zu leben, in der Regel die Korankultur inklusive Mohammeds Überlieferungen sowie die Scharia, fühlen sich die Eingeborenen – die «Indigenen», wie die Linken solcherlei Volk gerne nennen – von Zuwanderern gestört, ja herausgefordert. Für die Freunde des links geheiligten «Globalen Südens» ist der Schweizer, der auf sein Schweizersein pocht, allerdings kein schützenswerter Indigener, sondern ganz einfach «ein Rassist». Mit den Wahlen vom 22. Oktober hat das gemeinsame Dilemma aller europäischen Linken einen Namen bekommen:

Chiasso.

Auf Chiasso blicken heisst nämlich auf sich selbst blicken – auf die eigene Partei, auf die eigene Programmatik, auf die eigene politische Arbeit. Und die Frage zu beantworten: Was haben wir falsch gemacht, was machen wir gerade jetzt wieder falsch – mit unserem Gezeter über die SVP?

Die Migration aus dem «Globalen Süden», vornehmlich aus Afrika und Arabien, mithin aus der wirtschaftlich, kulturell und politisch verspäteten Welt des Islam, ist Europas grösstes und tiefgreifendstes Problem – weil es die Seele der Bürger berührt, die sich in diesem Europa, in ihren Vater- und Mutterländern zu Hause fühlen, oder zumindest fühlen möchten.

Der Urgrund der Abwehr von Fremden ist auch im allertiefsten Brunnen der Geschichte nicht auszuloten, denn er reicht tiefer als tief, er ist ein Menschheitsproblem. Weshalb ihm die grösste Aufmerksamkeit all derer gelten müsste, die für die Gestaltung der Gegenwart verantwortlich sein wollen, jedenfalls sein sollten – die demokratischen Parteien, und zwar zuallererst jene, die das «einfache Volk» zu vertreten vorgeben.

Wir sind wir – das ist das Grundgefühl des autochthonen Schweizers. Die Linke setzt diesem Schweizer Selbstbewusstsein – diesem Heimatbewusstsein! – ihre Weltrettungsideologie entgegen: Der Migrant ist uns wichtiger! Eine Unterstellung? Nein, eine Erfahrung, die ganz besonders jene Bürgerinnen und Bürger prägt, die vor einer Woche SVP wählten und damit erneut der aus linker Sicht rechtsextremen Partei der Schweiz zum Triumph verhalfen. Wie übrigens ganz ähnlich jüngst in Deutschland, in Frankreich, in Italien, neuerdings auch in Schweden.

Chiasso ist Europa.

Die Linke im Chiasso-Land steht deshalb vor einer historischen Aufgabe: Endlich von dem Problem zu reden, das ihre eigentlichen Wähler – ihre gewissermassen indigenen Wähler – zur Emigration nach rechts aussen drängt.

Für die Siege der Rechtspopulisten trägt die Linke die Verantwortung.

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