Frank A. Meyer – die Kolumne
Business as usual?

Publiziert: 20.03.2022 um 01:03 Uhr
Frank A. Meyer

Wussten alle alles? Wusste niemand nichts?

Der Kerl stolzierte also vor unser aller Augen durch die lang gestreckten Säle des Kremls, liess uniformierte Lakaien die Türen für sich öffnen, wie es einst für den Zaren Brauch war, dabei stets unfrei in seiner Körperhaltung – verklemmte Grossmannssucht. Zahllose Kameras führten der Welt sein neues Zarentum vor – verräterische Technik in der total durchinszenierten russischen Herrschaftssphäre.

Jeder hat das gesehen. Und keiner hat etwas gemerkt.

Man sah ihm alles nach. Im Geiste guter Nachbarschaft.

Zu Sowjetzeiten prägte Deutschlands Bundeskanzler Willy Brandt die Formel «Wandel durch Annäherung». Mit Erfolg. Das kommunistische Reich kollabierte. Es folgte eine Politik des Friedens nach dem Motto «Wandel durch Handel», die neue Formel der zivilisierten Welt für den Umgang mit der unzivilisierten Welt, auf dass sich jene schliesslich ebenfalls zivilisieren möge.

Ein Irrglaube, wie Russlands Krieg gegen die Ukraine zeigt, wie Chinas Umgang mit Menschen zeigt, die gegen die Doktrin der kommunistischen Partei verstossen. Der Irrglaube wurde zur Normalität:

Business as usual.

Wer kennt ihn nicht, diesen Begriff, postmodern beliebig und weit übers Geschäft hinaus, das er ursprünglich meint, die Gesellschaft bestimmend – alles nur business as usual.

Vor allem wird auch Politik als business as usual betrieben. Eine harmlose Praxis im freiheitlichen Westen. Eine gefährliche Praxis im Umgang mit Diktaturen und Despotien.

Politik ist nicht Geschäft, wenn es um Russland oder China geht. Und Geschäft ist nicht Politik.

Im Verkehr mit Putins Russland war es das aber. Und ist es noch im Verkehr mit Xi Jinpings China.

Die Geschäfte bestimmen den westlichen – den schweizerischen – Umgang mit der Diktatur: durch Investitionen im Reich der Mitte, durch Verkauf technologischer Spitzenfirmen an chinesische Konglomerate, deren wirklicher Besitzer Kommunistische Partei heisst, wenns drauf ankommt. Ein Fingerschnippen von Herrscher Xi – und die Magnaten der angeblich freien Wirtschaft im tatsächlich unfreien China kuschen vor der KP und ihrem Grossen Vorsitzenden.

Ein weiterer Begriff kennzeichnete diese wirklichkeitsblinde Politik: alternativlos – business as usual wurde als zwingend erklärt, ohne jede weitere Variante, und sei es nur eine Denkvariante. Erfinderin dieses unheilvollen Begriffsgespanns war Angela Merkel, vier Legislaturperioden lang Deutschlands Kanzlerin, sozialisiert in der kommunistischen – alternativlosen – DDR.

Während 16 Jahren tänzelte die mächtige Frau nicht ohne Charme und Eleganz über die roten Teppiche der Welt: als Verkörperung des alternativlosen Business as usual – als westlicher Friedensengel in Zeiten von Verhandlungen, die jeden Konflikt zu regeln vermochten.

Nun führt Putin Krieg.

Und morgen führt womöglich Xi Krieg gegen Taiwan, das in seinen Augen ein Teil der Volksrepublik ist – genau wie Putin die Ukraine als Teil Russlands betrachtet.

Politik nach dem Prinzip business as usual ist die Falle, in welcher der Westen auch in diesem Fall zappeln würde: wirtschaftlich abhängig vom lukrativen China-Geschäft – Deutschland alternativlos in der politischen Sackgasse mit seinen wunderbaren Mercedes-, BMW- und Volkswagenmodellen für die chinesische Kundschaft.

Gibt es einen Mechanismus, um dieser Falle zu entgehen? Durchaus. Er ist in der Werkstatt der Freiheit – der Demokratie! – sogar ganz ursprünglich angelegt:

Gegendenken.

Es ist diese innere Stimme des Menschen, wenn er nach der Lösung eines Problems sucht und ihn dabei Skepsis befällt – oder gar die Freude daran, zwei Möglichkeiten der Problemlösung auszuprobieren, gegeneinander abzuwägen. Ja, all das spielt sich im wachen erwachsenen Menschen ganz selbstverständlich, ganz natürlich ab.

Auch im Politiker. Er muss nur darauf vertrauen. Und es aussprechen. Damit sich die Bürgerinnen und Bürger an der Problemlösung beteiligen können – mit eigenen Alternativen.

Oh nein, das hat nichts zu tun mit dem abgehobenen akademischen Diskurs-Geschwätz. Bürgerliches Mit- und Gegendenken funktioniert ganz einfach nach dem Muster: «Reden wir doch mal darüber» – ob es eine gute Sache ist, wenn Manager und Aktionäre die Wirtschaft der freien Welt in die Hände totalitärer Angriffskrieger legen. Ob es eine gute Sache ist, wenn die Mächtigen der Wirtschaft in der globalen Politik mächtiger sind als gewählte Politiker.

Nicht Annalena Baerbock oder – wie einst – Frank-Walter Steinmeier als Aussenminister von Deutschland, sondern der Mercedes-Vorstandsvorsitzende Ola Källenius? VW-Chef Herbert Diess bestimmender für die deutsche Diplomatie als die demokratisch gewählten Aussenpolitiker?

Ein Unding, sagt der Demokrat.

Business as usual, sagte bisher die Politik.

Plötzlich sieht man es anders. Plötzlich sehen es alle anders: Business mag Business sein. Politik jedoch ist mehr. Politik ist Verantwortung.

Verantwortung fürs Ganze.

Zeit der Befreiung
6:21
Handel mit Russland und China:Zeit der Befreiung
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