Ist der Wähleranteil der Grünen gross genug, um den Sozialdemokraten einen Platz in der Landesregierung abzuluchsen? Überholt Die Mitte den Freisinn und hat Anspruch auf einen zweiten Bundesratssitz?
Die «Zauberformel» als Zahlenzauber.
Auf Initiative des christlichdemokratischen Parteistrategen Martin Rosenberg wurde die Vier-Parteien-Regierung 1959 verwirklicht: zwei Freisinnige, zwei Sozialdemokraten, zwei Christdemokraten, ein SVPler. Später passte man diese Formel der veränderten politischen Realität an: Die Christdemokraten haben nur noch einen Sitz, die SVP dagegen zwei.
Wird das Zahlenspiel nach den Parlamentswahlen weitergespielt?
Dem politischen Denker Martin Rosenberg ging es vor 64 Jahren keine Sekunde lang um das Abzählen von Wähleranteilen. Es ging ihm um politische Macht: Der Freisinn, die erst herrschende und dann vorherrschende Partei, sollte gestürzt werden, natürlich in schweizerischem Stil, also lediglich redimensioniert zu einer Regierungspartei unter anderen. Dazu brauchte die CVP die SPS, die seither zwei Bundesratssitze besetzt.
Kein Zahlenspiel, sondern Machtkalkül.
Also pure Politik.
Weshalb kapriziert sich die politisierende Schweiz heute auf Wähleranteile? Weshalb wird eine Beteiligung der Grünen am Bundesrat mit nichts begründet als mit arithmetischer Gerechtigkeit? Weshalb soll der Freisinn einen seiner zwei Sitze einbüssen, wenn er hinter Die Mitte zurückfällt?
Das Rätsel ist keins, denn die gegenwärtige politische Kultur der Schweiz ist unpolitisch. Das alles erklärende Schlüsselwort lautet: Neutralität. Was ist Neutralität anderes, als sich aus der Politik herauszuhalten? Das Politisieren den anderen Staaten zu überlassen – für deren Entscheidungen man schliesslich nichts kann?
Die Schweiz wäscht ihre Hände in Unschuld!
Politik hat aus Schweizer Sicht etwas Anrüchiges, ist eine unsaubere Angelegenheit, irgendwie. Sauber indes ist eine arithmetisch zu begründende, eine berechenbare Bundesratswahl – sachliches Ausrechnen statt politischer Weichenstellung!
Die Bundesrats-Zauberformel ist die Metapher für eine unpolitische Innenpolitik, die Neutralität die Metapher für eine unpolitische Aussenpolitik.
Und schon steht ein weiteres Zahlenspiel auf der unpolitisch-politischen Agenda: die Zehn-Millionen-Schweiz – eine Volksinitiative der SVP.
In der «Neuen Zürcher Zeitung» referierte SVP-Grossvater Christoph Blocher jüngst über die Probleme, die mit der so wunderbar runden Zahl Zehn weggezaubert werden sollen: Nöte vom Wohnungsbau über die Gesundheits- und Energieversorgung bis zum Bildungssystem lösen sich durch eine beschränkte Einwohnerzahl in nichts auf – beschränkte Einwohnerzahl, beschränkte Probleme.
Beschränkte Schweiz.
Am kommenden Dienstag, dem 12. September, jährt sich zum 175. Mal der Tag, an dem der moderne Bundesstaat Schweiz gegründet wurde. Eine grossartige Tat mitten im Fürsten- und Monarchen-Europa.
Eine politische Befreiungstat!
Die Täter: revolutionäre Freisinnige, freilich auch sie dem schweizerischen Stil verpflichtet, also einem versöhnlichen Umgang mit den katholischen Bundesstaatsgegnern. Dennoch waren sie entschlossene Politiker mit klarem Ziel: einer neuen Schweiz.
Für diese politische Leidenschaft stand ganz besonders ein Begriff: Freisinn. Das schönste Wort der Schweizer Freiheitsgeschichte ist voller Versprechen: frei sein, sinnvoll politisieren und zugleich der Wirklichkeit sinnlich zugewandt bleiben, mit Lust an der Politik.
Für die Philosophin Hannah Arendt sind Freiheit und Politik Begriffe, die einander bedingen: Freiheit ist Politik – oder sie ist nicht. Auf helvetisch-revolutionäre Begrifflichkeit gebracht:
Freisinn ist Politik – oder er ist nicht!
175 Jahre nach dem bis heute europaweit leuchtenden Sieg des Freisinns müsste 2023 das Jahr des Aufbruchs der Schweiz in die Politik sein – raus aus der apolitischen Herumdruckserei, von der Neutralität in der Aussenpolitik bis zur Zauberformel im Bundesrat.
Unpolitik ist Unfreiheit.