Der Zürcher «Tages-Anzeiger» stellte die doppelbödige Frage: «Welche Partei holt den Sitz von Ignazio Cassis?» Was erstens bedeutet: Der Freisinn verliert einen Bundesratssitz. Was zweitens bedeutet: Es ist der, auf dem der Tessiner Bundesrat seinen Platz hat.
Na, welcher denn sonst? Der Aussenminister ist entbehrlich in einem Land, das der Aussenwelt nichts abzugewinnen vermag – es sei denn pekuniären Gewinn von Reichen und Superreichen, die sich durch die fordernde Aussenwelt ebenfalls bedrängt fühlen und ins sicher-schöne Alpen-Réduit drängen. Für diese Kundschaft müsste der Aussenminister eigentlich Verteidigungsminister sein – ein Verteidiger der heilen helvetischen Innenwelt gegen die heillos böse Aussenwelt.
Das aber hat Ignazio Cassis bisher einfach nicht begriffen. Nur so ist zu erklären, dass der Liberale ein Rahmenabkommen mit der EU vorlegte und es sogar der politischen Diskussion aussetzte – im Glauben, Einsicht in die Wirklichkeit jenseits der Schweizer Grenzen werde sich diesseits der Schweizer Grenzen durchsetzen. Eine Illusion des vernunftbegabten Arztes. Doch für Vernunft in aussenpolitischen Dingen hat man ihn nicht gewählt, es sei denn zur Vorspiegelung derselben.
So gesehen hat Ignazio Cassis versagt. Kommt hinzu, dass er Tessiner ist, mithin ohne grösseren regionalen oder gar sprachkulturellen Flurschaden abwählbar.
Allerdings stünde mit ihm auch der Freisinn zur Abwahl: die Staatsgründerpartei von 1848; die über ein Jahrhundert hinweg mächtigste Regierungspartei; die deshalb ebenso lang arroganteste Partei des Landes; die Partei schliesslich, die vor lauter Anmassung das Gefühl für sich selbst verlor – und im Rucksack der Rechtspopulisten landete.
Was sie davon hat, lässt sich an einer Blick-Schlagzeile ablesen: «SVP-Chef Chiesa droht mit Bundesrats-Abwahl». Die äussere Rechte schwingt sich auf zur Richterin über das Schicksal des Freisinns! Könnte die Schmach grösser sein?
FDP-Sitz weg, Cassis gestürzt – wer setzt sich dann auf den leeren Stuhl im Bundesratszimmer? Die Grünen? In Deutschland strebt deren Schwesterpartei die Kanzlerschaft an. Weshalb sollte der Einzug in die Schweizer Landesregierung nicht gelingen?!
Nachdem sich die Christdemokraten mit der neuen, konfessionell neutralen Benennung «Die Mitte» endgültig säkularisiert haben, käme das Siebner-Kollegium durch einen Grünen wieder in den Genuss einer Glaubenspartei: mit der Klimakatastrophe als absoluter Wahrheit, vor welcher uns nur die Klimapartei zu erretten vermag – die natürlich auch als einzige politische Kraft den Kreuzzug der Klimakinder in heilsbringende Bahnen zu lenken weiss.
Die Grünen im Bundesrat: ein entscheidender Schritt zur Erlösung der dekadenten spätbürgerlichen und kapitalistischen Ordnung. Mit Regula Rytz als Erlöserin – ein Bild, wie geschaffen für die gendergebenedeite Wählerschaft.
Die Klimakrise ist der ideologische Überbau der Grünen, wie einst der Klassenkampf für die Kommunisten. Das macht die Partei zum Ernstfall für die liberale, die freisinnige Demokratie – für die Freiheit der Bürgerinnen und Bürger. Alle grüne Glaubensmacht schlägt sich realpolitisch in Form von Verboten und Verzicht nieder. Nicht mehr Auto fahren, nicht mehr Flugzeug fliegen, nicht mehr Fleisch essen, kurzum: nicht mehr leben wie bisher, lustvoll, frei und bewegungsfreudig, sondern umweltfolgsam und mobilitätsarm – Bewegung höchstens noch mit öffentlichen Verkehrsmitteln, Fahrrad und ausgreifender Fussgängerei.
Wenn das alles wäre! Doch zur grünen Heilsbotschaft gehören offene Willkommensgrenzen für Migranten ebenso wie Gendergesetze für den richtigen Sprachgebrauch, was bedeutet: die Zerstörung des Sozialstaats wie die Verstörung des bürgerlichen Umgangs miteinander.
Noch nie seit dem Ende kommunistischer Welteroberungsträume ist eine politische Bewegung derart autoritär aufgetreten.
Als Weltrettungsbeauftragte.
Darum ist – wäre – die Stunde des Freisinns im Wortsinn gekommen: der politischen Bewegung, die an der Wiege der offenen Gesellschaft im Geiste Karl Poppers stand, des grössten Philosophen moderner, weil freiheitlicher und sozialer Lebensverhältnisse.
Ja, das sind grosse Schuhe für den Schweizer Freisinn. Oder auch nicht. Nur wenige Jahrzehnte ist es her, da wies die Partei mit dem noblen Namen zahlreiche noble Politikernamen auf, die den Freisinn im Bundesparlament nicht nur mit freiem Geist, sondern auch mit feiner Sinnlichkeit erfüllten: Petitpierre, Tschopp, Schoch, Rhinow, Salvioni, Barchi, Segond, Marty, womit nur einige der einstigen kulturellen FDP-Elite genannt sein sollen – 1848er im besten Sinne.
Gibt es heute noch Parlamentarier in ähnlicher Ausprägung? Da wären etwa, bisweilen noch ein wenig zaghaft, Christa Markwalder, Damien Cottier, Andri Silberschmidt, Susanne Vincenz-Stauffacher, Jacqueline de Quattro, Damian Müller – freisinnige Hoffnungsträger, denen zur Zahl 1848 mehr in den Sinn kommt als die Abfahrtszeit des Schnellzugs von Zürich nach Genf.
Freisinn wegwählen aus dem Bundesrat, Grüne hineinwählen: Es wäre die Verengung der historischen Zauberformel auf sinnentleerte Arithmetik. Es wäre Reduktion von Politik auf rigide Religion.
Es wäre Verklärung statt erhellender Aufklärung. Es wäre der Abschied von 1848.