Nun werden die Unternehmen der Schweizer Medizinaltechnik ihre Weltklasse-Produkte also über bürokratische EU-Hürden hieven müssen, um den wichtigsten Markt zu beliefern. Die zukunftsträchtige Branche umfasst 1400 Unternehmen mit 58500 Mitarbeitern und macht einen jährlichen Umsatz von 15,8 Milliarden Euro.
Nun wird die Schweizer Forschung also über EU-Hürden stolpern – statt, wie bisher, mehr aus Brüssels Fördertöpfen zu kassieren, als Bern einbezahlt. Auch wird die wissenschaftliche Elite der Eidgenossenschaft künftig kaum noch die Leitung von EU-Leuchtturmprojekten übernehmen dürfen. Die Alpenrepublik fällt im Wettbewerb der Weltspitze als Forschungsstandort zurück.
Nun wird die Schweizer Gesundheitspolitik also aus der EU-Gesundheitspolitik ausgeklinkt – statt, wie gerade jetzt in Corona-Zeiten, auf Experten-, Botschafter- und Ministerebene mit den Fachkräften des Kontinents zusammenzuwirken.
Nun wird es also zu Ende gehen mit der Schweiz als europäischer Stromdrehscheibe – statt, wie vorgesehen, mit ihren Wasserkraftwerken eine bedeutende Rolle als Europas Generator zu spielen.
Dergestalt wird nun also die helvetische Souveränität voll zu ihrer Wirkung kommen, wenn das Rahmenabkommen mit der Europäischen Union scheitert – wie zu befürchten steht.
Ja, genau so sieht sie aus, genau so fühlt sie sich an – die EU-freie Eidgenossenschaft:
Schweizer Souveränität 2021.
Aber war das nicht im Grunde bereits bisher so? Die Gesetzgebung der Schweiz richtet sich seit Jahren nach dem Prinzip der Europaverträglichkeit. Matthias Oesch, Europarechtler an der Universität Zürich, listet als Beispiele auf: das Anwaltsgesetz, das Heilmittelgesetz, das Nationalbankgesetz, das Luftfahrtgesetz, das Fernmeldegesetz, das Gentechnikgesetz, das Patentgesetz, das Datenschutzgesetz, das Finanzmarktinfrastrukturgesetz. Oesch kommt zum Schluss: «Die EU gibt den Takt an, die Schweiz folgt hintenan.»
Die Schweiz praktiziert gegenüber der Europäischen Union das Gegenteil von Souveränität: den «autonomen Nachvollzug» – das perfekte Paradox einer Politik, die helvetischen Patriotismus gegen europäische Partizipation auszuspielen sucht. Das ganz konkrete, ganz praktische Resultat dieser Schimäre:
Zustimmen statt mitbestimmen.
Wie konnte es so weit kommen? Für die Antwort muss man das Senkblei tief in die Geschichte hinablassen: Neutralität und das damit verbundene politische Abseitsstehen bilden die Überlebensdoktrin der Schweizerischen Eidgenossenschaft – das Erfolgsrezept dieses grandiosen Landes, dieser avantgardistischen Demokratie und Republik seit 1848.
Die Erfahrungen in den Jahren von Faschismus, Nazismus und Zweitem Weltkrieg haben sich geradezu genetisch im politischen Unterbewusstsein der Schweiz niedergeschlagen. Sie blieb verschont von Terror und Vernichtung durch ihr neutrales Verhalten, durch Verweigerung und Verpuppung – durch Nicht-dabei-Sein.
Notwendigkeit, Klugheit, Weisheit und Opportunismus als Geheimnis glücklicher geschichtlicher Fügung – der segensreiche Schweizer Sonderweg für alle Zukunft. Wer wagt es, diesem Mantra zu widersprechen?
Nach dem Sieg der Alliierten jedoch kam es im kriegserschütterten Europa zum Wechsel der Voraussetzungen: Das Miteinander ersetzte das Gegeneinander. Die heutige EU ist Frucht dieses revolutionär neuen Denkens.
Die Schweiz, in ihren Réduit-Erfolg verliebt, setzte sich nicht an den europäischen Tisch, an dem sie mit Sicherheit eine zentrale Rolle gespielt hätte als multikulturell erfahrene Friedensnation.
Lieber verfolgte sie das neue kooperative Geschehen aus der Loge ihrer Unversehrtheit. Was hatte sie mit all den kriegsbeschädigten Nationen rundumher zu tun? Die waren zwar ein Markt für die tüchtige Industrienation, also wirtschaftlich unverzichtbar – doch politisch verzichtbar.
Das Rahmenabkommen wäre ein Schritt hin zum Tisch, an dem die Europäer gemeinsam sitzen, verhandeln, sogar streiten. Ein Schritt, um dabei zu sein, ohne das historisch so erfolgreiche Abseits ganz aufzugeben.
Ein Abkommen zum Ankommen.