Frank A. Meyer
Foto: Antje Berghäuser

Frank A. Meyer – die Kolumne
1918

Publiziert: 18.11.2018 um 12:15 Uhr
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Frank A. MeyerPublizist

Christoph Blocher hielt in Uster eine Rede zum Landesstreik von 1918. Er wollte sie verstanden wissen als «Dank an die Bevölkerung» von damals. So hatte er seinen Vortrag überschrieben.

Blochers Ausführungen zu den Geschehnissen vor 100 Jahren spotten jeder historischen Wirklichkeit. Doch soll es hier nicht um einen Abgleich von Blocher-Vorstellung und Geschichts-Wahrheit gehen.

Ausschliesslich der «Dank an die Bevölkerung» ist Gegenstand dieser Erörterung. Blocher teilt in seiner Rede das Volk von 1918 in Freund und Feind. Mit der «Bevölkerung», welcher er dankt, meint er die Gegner der protestierenden und fordernden Arbeiterschaft.

Stand 1918 das Volk – die Bevölkerung – gegen die Streikenden?

Blochers Sicht auf die Ereignisse spricht den 250'000 streikenden Arbeiterinnen und Arbeitern die Zugehörigkeit zum Volk ab. Ebenso Hunderttausenden solidarischen und sympathisierenden Bürgerinnen und Bürgern, die in jenen Wochen, Monaten, Jahren auf einen Sieg im Kampf um gerechtere soziale Verhältnisse hofften.

Mein Vater, Max Meyer, geboren 1902, gehört für Blocher zu den Feinden, denn er nahm damals teil am Arbeiterprotest. Er erlebte den Einsatz der Armee, bei dem in Grenchen mehrere Arbeiter erschossen wurden – Uhrmacher wie er.

Die Erlebnisse vom Landesstreik gehörten zu den politischen Erzählungen, denen ich mit sechs Jahren lauschte, wenn mein Vater am Uhrmacher-Etabli abends nach dem Essen Heimarbeit verrichtete, weil er noch in den Fünfzigerjahren nicht genug verdiente, um der Familie mit seinem Fabriklohn ein bescheidenes Leben zu ermöglichen. Meine Mutter Lydia, Régleuse von Beruf, sah sich ebenfalls zur Heimarbeit genötigt, für einen Franken und 50 Rappen in der Stunde. Später bekam sie 50 Rappen mehr. Sie fertigte Uhrenarmbänder. Ich durfte die Schlaufen und die Schnallen anbringen.

In dieser Geborgenheit unseres Arbeiterhaushalts erfuhr ich von den Nöten, die 1918 die Massen zum Streik getrieben hatten: Löhne, von denen man nicht leben konnte, unerschwingliche Nahrungsmittel, fehlende Altersversicherung, 60-Stunden-Woche, Abhängigkeit von der Willkür der Patrons – existenzielle Drangsal von früh bis spät, sieben Tage in der Woche.

Ich erfuhr an einem jener Abende, was der Lehrer meinem Vater mitgeteilt hatte, als er 14-jährig war: «Max, du bist zwar mein bester Schüler und solltest deshalb aufs Gymnasium, doch ihr seid arm zu Hause, darum musst du in die Fabrik.» Max lernte den Uhrmacherberuf, aus eigenem Antrieb sämtliche Partien – «die ganze Uhr». Mit 73 Jahren übte er bei Rolex sein Handwerk als hoch geschätzte Fachkraft immer noch aus.

Max Meyer gehörte nicht zum Volk, dem Christoph Blocher bei seiner Ansprache – mit welcher Legitimation eigentlich? – in anmassend paternalistischer Pose dankte.

Max Meyer gehörte Zeit seines Lebens zum Volk, das die Schweiz sozial weiterbrachte, das durch steten politischen Druck auch die Wirtschaft entwickeln half: Bessere soziale Verhältnisse bewirkten ökonomische Modernisierung.

Wäre die Kinderarbeit abgeschafft worden ohne politischen Druck? Wäre die 48-Stunden-Woche eingeführt worden ohne Sozialdemokraten und Gewerkschaften? Wie stehts mit der AHV und dem Frauenstimmrecht? Könnte die Schweiz heute stolz auf ihren klugen Sozialstaat blicken, wenn es die Arbeiterbewegung nicht gegeben hätte?

Welchem Volk – welcher Bevölkerung – ist zu danken mit Blick auf den Landesstreik, der ja nur radikalster Ausdruck mühseliger Arbeiterkämpfe war, über Generationen hinweg?

Ist Blochers Volk zu danken? Oder dem meines Vaters Max Meyer?

Christoph Blocher schildert in einem anrührenden, geradezu zärtlichen Satz die Idylle seiner Kindheit: «Ich bin in einem grossen Pfarrhaus mit Garten aufgewachsen. Dort blühten Zimtröschen und Flieder. Wenn ich die irgendwo auf der Welt rieche, verspüre ich Heimatgefühle.»

Ich bin in einer winzigen Arbeiterwohnung aufgewachsen. Mein Vater ging mit mir und Nachbarskindern, die ebenso in engsten Verhältnissen lebten, oft in den nahen Wald. Dort blühten im Frühling die Primeln und die Leberblümchen, es dufteten die Tannen. Wenn ich diese Stimmung heute irgendwo auf der Welt erlebe, zum Beispiel bei einem Spaziergang über die Pfaueninsel im Berliner Wannsee, dann denke ich an Vater und Mutter und unsere heimeligen Abende.

Christoph Blochers Volk von damals war das Volk.

Max Meyers Volk war das Volk – beides war die Bevölkerung der Schweiz.

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