Frank A. Meyer
Zierpflanze

Publiziert: 14.05.2017 um 11:51 Uhr
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Aktualisiert: 12.09.2018 um 09:40 Uhr
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Frank A. MeyerPublizist

Es handelt sich natürlich um eine unflätige Unterstellung. Woher mag sie nur stammen? Aus der Tiefe der Vergangenheit. So viel steht fest. Doch die ist schwer bestimmbar. Irgendwann im 18. Jahrhundert, als die Kartoffel in Europa heimisch wurde und der Kanton Thurgau noch Untertanengebiet war, muss die böse Sottise erfunden worden sein, derzufolge die Berner den Thur­gauern hätten beibringen müssen, dass die Kartoffel keine Zierpflanze ist.

Wir Heutigen weigern uns selbstverständlich, dieser Verunglimpfung, die gegen jeden freundeidgenössischen Comment verstösst, auch nur einen Anflug von Glauben zu schenken!

Doch trotz dieses guten Vorsatzes lässt ein Thurgauer Vorkommnis die üble Nachrede plötzlich wieder hochaktuell erscheinen: Die Entscheidung des Kantonsparlaments, in den Schulen das Frühfranzösisch abzuschaffen, also den Französisch­unterricht auf Primarschulstufe.

Wie ein Rülpser aus der Geschichte kommt da die Frage hoch: Muss den Thurgauern vielleicht erst beigebracht werden, dass Französisch keine Zier­sprache ist?

Das muss es wohl. Wer aber soll den wunderbaren Kanton mit seiner zauberhaften Landschaft und seinem freien Blick über den Bodensee darüber belehren, dass die Schweiz aus weit mehr besteht als diesem weiten Horizont? Dass weiter Horizont bedeutet: Die ganze Schweiz zur Kenntnis zu nehmen. Was wiederum bedeutet: Diese Kenntnis in die Köpfe der Jugend zu pflanzen, früh schon in der Schule, und mit der nötigen Strenge.

Ja, genau darum geht es beim «Frühfranzösisch», wie die Schulmeister das Fach zu nennen belieben: um die Schweiz.

In der Tat, es geht nicht um die französische Schweiz. Es geht schon gar nicht um einen Dienst oder gar um eine Gnade, die der Sprachkultur der Westschweiz in den Thurgauer Klassenzimmern zu erweisen wäre. Es geht ums grosse Ganze, das es nicht geben würde ohne die Suisse ­romande, übrigens auch nicht ohne das Ticino: die Schweiz.

Das Erlernen der zweiten Landessprache ist die Vervollständigung der Schweiz in den Köpfen der Deutschschweizer ­Jugend. Kann die Beschäftigung mit der vielkulturellen Wirklichkeit der Heimat beurteilt werden wie der Englischunterricht?

Auch Thurgauer Patrioten dürfte die ­stolze Formel von der «Willensnation Schweiz» nicht gänzlich unbekannt sein, vor allem nicht am 1. August. Für den ­patriotischen Nachwuchs aber soll sie nicht gelten: Weil, wie Pädagogen ­besorgt versichern, Schülern mit dem Französischunterricht zu viel Willen abverlangt werde.

Welche Lehrer, was für Erzieher, die sich den Mühen dieses Unterrichts nicht aussetzen wollen? Und ihre Schüler einfach als Ausrede missbrauchen.

Kein Primarschüler muss nach vier Jahren perfekt französisch parlieren. Aber er muss gerungen haben um die Sprache, um die Kultur seiner Compatriotes im fernen Westen der Heimat, ferner freilich als Deutschland, aber näher im Herzen – müsste man meinen, dürfte man hoffen! Denn auch darum geht es: ums Kümmern umeinander, weil nur dieses Schweiz-Gefühl die Schweiz ergibt.

Es geht im Grunde gar nicht um Sprachunterricht. Es geht um Kulturunterricht. Das Fach sollte eigentlich ausgeweitet werden zu einem kulturellen Erlebnisfach. In einer Zeit, in der das als Englisch bezeichnete Globalesisch die Pflege von Sprachkulturen weltweit bedroht, müsste innovative ­Pädagogik doch darauf aus sein, das Fach Französisch zu verstärken, statt es zu schwächen.

Und wenn der Kanton Thurgau die Schweiz partout nicht begreifen will? Dann muss der Bund den Französisch­unterricht auf Primarschulstufe durchsetzen. Bundesrat Alain Berset weiss, ­wovon er spricht, wenn er seine Entschlossenheit zu diesem autoritären Schritt ­bekundet: Er spricht nicht von der Romandie, der er entstammt, nein, er spricht von seiner Schweiz.

Dagegen wiederum erheben sich im Kanton Appenzell Innerrhoden, der Französisch erst auf Sekundarschulstufe unterrichtet, besorgte Stimmen: Alain Bersets Ansinnen sei geeignet, «neue nationale Gräben» aufzureissen.

Was für ein Aberwitz! Ausgerechnet der Kanton, der seine Primarschüler vom sprachkulturellen Schweiz-Verständnis ausschliesst, befürchtet Gräben, sollten diese Landeskinder per Berner Befehl wieder in ihr Recht gesetzt werden: das Recht auf eine ganzheitliche Vorstellung von der Eidgenossenschaft.

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