Frank A. Meyer
Der Undiplomat

Publiziert: 01.07.2018 um 11:42 Uhr
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Aktualisiert: 17.10.2018 um 15:17 Uhr

Da verhandelt also Bundesrat Ignazio Cassis in Brüssel über ein Rahmenabkommen der Schweiz mit der Europäischen Union – und macht alles falsch. Was macht er falsch? Er denkt laut nach. Worüber denkt er nach? Zum Beispiel denkt er nach über die flankierenden Massnahmen zur Freizügigkeit der Europä-ischen Union, mit denen die Schweiz ihre Arbeitnehmer, aber auch ihr Gewerbe vor Dumpinglöhnen schützt.

Laut dieser Regeln muss eine EU-Firma acht Tage vor Arbeitsbeginn schriftlich annoncieren, wenn sie einen Auftrag in der Schweiz ausführen möchte – damit rechtzeitig Kontrollen durchgeführt werden können. Diese Voranmeldefrist ist Brüssel zu lang.

Ignazio Cassis vertritt nun die Auffassung, der Schutz von Arbeitnehmern und Gewerbe liesse sich auch mit einer kürzeren Frist garantieren: vier Tage beispielsweise, schliesslich lebe man im Zeitalter der digitalen Kommunikation. Der Tessiner Bundesrat kam sogar auf den Gedanken, die Anmeldung eines ausländischen Arbeitseinsatzes könne der Schweiz womöglich online, also auch per Laptop oder Smartphone mitgeteilt werden.

Offenbar alles ganz schrecklich.

Paul Rechsteiner, Präsident des Gewerkschaftsbundes und St. Galler Ständerat, droht bereits mit dem Referendum gegen ein Rahmenabkommen, das solchem Fristen-Frevel frönen würde.

Doch hat Cassis tatsächlich eine «rote ­Linie» überschritten, wie ihm die Linke vorwirft? Er hat! Denn wer frei denkt, überschreitet unablässig rote Linien, solche der Linken wie solche der

Rechten, wobei der Tatbestand für die Rechten allein dadurch erfüllt ist, dass ein solches Rahmenabkommen überhaupt verhandelt wird. Die rote Linie der SVP ist nun mal die Schweizer Landesgrenze.

Ignazio Cassis überschreitet Grenzen, seit er als Aussenminister die Schweiz in der Welt vertritt. Er outete sich als Freund Israels: für die Linke schiere Ketzerei, fühlt sie sich doch in Solidarität mit den Israel-Feinden der Hamas verbunden – einer Terrortruppe, die den bei der Linken so überaus angesagten Dritte-Welt-Groove verströmt. Er erkühnte sich, das Uno-Flüchtlingshilfswerk für Palästina (UNRWA) als «Teil des Problems» im Nahen Osten zu bezeichnen: in den Augen der Diplomaten von Bern über Genf bis New York ein Fauxpas sondergleichen – die UNRWA plötzlich im Ruch einer karitativ kaschierten Komplizenschaft mit der Hamas!

Alles in der Tat sehr ungewöhnlich, für Diplomaten grenzwertig und damit ein gewichtiger Grund, die Stirn in Falten zu legen.

Ignazio Cassis, der Undiplomat.

Wie anders war doch da sein Vorgänger, Didier Burkhalter! Ein Diplomat vom Scheitel bis zur Sohle; jeder Auftritt comme il faut, geräuschlos also; die Haltung korrekt und abgezirkelt bis in die Haarspitzen; alles immer wie frisch frisiert und parfümiert. So mochten das die Herren des Aussenministeriums, die Diplomaten.

Und dann kam Ignazio Cassis: ein Politiker – nur ein Politiker!

Das Problem der Schweizer Aussenpolitik: Sie wurde bisher vornehmlich von Diplomaten geprägt, einem Berufsstand, der geübt ist im Nichtssagen, der das Nichtssagen geradezu als höchste Disziplin erachtet, in welcher jeder neue Aussenminister zu unterrichten ist, bis auch er nichts mehr zu sagen wagt. Von Didier Burkhalters Nichtssagerei schwärmt das Berner Diplomatenkorps noch heute – gerade angesichts des Schreckens, in den Ignazio Cassis die distinguierten Exzellenzen mit seinen tollkühnen Wortmeldungen versetzt.

Muss der Aussenminister zum Diplomaten erzogen werden?

In einer Welt, in der die Politik nach Jahren der diplomatisch verbrämten Zögerlichkeiten, ja des Stillstands endlich in Bewegung gerät, von Washington über Paris bis Berlin, ist Ignazio Cassis ein ­Segen: Auch Bern bewegt sich!

Zum Ärger aller Rechsteiners, aller Rechten und der Rechthaber aller Art. Zur Freude jedoch all derer, die Politik schon immer für das wirkliche Wesen der Demokratie gehalten haben.

Der Politiker Cassis lebt.

Noch.

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