FĂŒr den ZĂŒrcher «Tages-Anzeiger» geht es um den «Umbau» der tĂŒrkischen Demokratie zu Âeinem PrĂ€sidialsystem. FĂŒr die deutsche Tageszeitung «Die Welt» steuert Staatschef Recep Tayyip Erdogan «sein Land in die Diktatur».
Was denn nun?
Christian Levrat, Freiburger StĂ€nderat und PrĂ€sident der Sozialdemokraten, hat die tĂŒrkische Wirklichkeit erlebt. Er wollte sich in Ankara mit einem Kolumnisten der verbotenen Zeitung «Cumhuriyet» treffen. «Am Tag vor dem geplanten GesprĂ€ch wurde er festgenommen», weiss Levrat zu berichten.
Der «Spiegel» aus Hamburg bringt das Geschehen auf die KurzÂformel: «Festnehmen, absetzen, mundtot machen.» Das Magazin hĂ€tte «foltern» hinzufĂŒgen dĂŒrfen.
Das Entsetzen in Europas HauptstĂ€dten ist gross. Die Diktatur ÂTĂŒrkei hatte man nicht erwartet.
Ebenso gross ist die Ăberraschung, wird doch Erdogan von der EU seit Jahren verhĂ€tschelt: mit Beitrittsverhandlungen, mit privilegierter Partnerschaft, mit der Aussicht auf Visafreiheit fĂŒr tĂŒrkische BĂŒrger, mit Milliarden fĂŒr Merkels FlĂŒchtlingsabkommen.
Und jetzt das!
Aber genau das war vorauszusehen, denn Erdogan hat sein heutiges Handeln angekĂŒndigt, und zwar mit dem Bekenntnis: «Die Demokratie ist nur ein Zug, auf den wir aufsteigen, bis wir am Ziel sind.»
Erdogan ist am Ziel. Er steigt gerade aus dem Demokratie-Zug.
Er tut es völlig ungeniert und ungerĂŒhrt, denn Demokratie ist ihm ebenso egal wie ÂEuropa. Der Diktator verfolgt seit je seine Âeigene Agenda: die Errichtung einer Herrschaft des Islam ĂŒber die TĂŒrkei.
Dazu musste er den einzigen leidlich funkÂtionierenden sĂ€kularen Staat mit islamischen Wurzeln rĂŒckabwickeln: die TĂŒrkei von Mustafa Kemal AtatĂŒrk (1881â1938), dem BegrĂŒnder der modernen, weil reliÂgionsfernen Republik â zeitweise sogar Demokratie â am Bosporus.
Nun wird der Islam wieder ermĂ€chtigt â Erdogans persönlicher Traum. Die politische Vision des Diktators ist allerdings mehr als ein Traum. Der Putsch des «Sultans» bedeutet die ErfĂŒllung des islamischen Auftrags, ist doch seit Mohammeds Tagen in Medina etwas anderes gar nicht denkbar: Der Islam hat zu herrschen, wo Âimmer er dazu in der Lage ist â auch wenn man fĂŒr die Fahrt ans Ziel vorĂŒbergehend in den Zug der Demokratie steigen muss.
Herrschaft ist nun mal unverzichtbar als geschichtliche Sendung des Islam, seit mehr als anderthalb Jahrtausenden, ohne RĂŒcksicht auf die ZeitlĂ€ufte.
Im Koran, dem Buch, das Allah seinem Propheten Mohammed persönlich diktierte, hÀlt Sure 3:110 den Auftrag fest: «Ihr (GlÀubigen, also Muslime) seid die beste Gemeinschaft, die unter den Menschen entstanden ist. Ihr gebietet, was recht ist, verbietet, was verwerflich ist, und glaubt an Allah.»
Sure 30:30 verschafft diesem absoluten und globalen Anspruch Nachdruck: «Die Art und Weise, in der Allah (die Menschen) geschaffen hat, darf man nicht abÀndern. Das ist die richtige Religion. Aber die meisten Menschen wissen nicht Bescheid.»
In der Tat: Der Westen weiss nicht Bescheid. Anders ist nicht zu erklĂ€ren, dass dem Islam immer noch begegnet wird, als werde der sich demnĂ€chst in einen demokratie- und rechtsstaatsvertrĂ€glichen Protestantismus verwandeln. Entsprechend verhalten sich westliche Politiker, wenn sie den «Dialog mit der TĂŒrkei» beschwören. Als könne es ĂŒberhaupt einen ÂDialog geben mit Vertretern einer Religion, die der göttlichen Weisheit teilhaftig geworden ist.
Das intellektuelle Besteck, mit dem der Westen dem Islam gegenĂŒbertritt, entstammt den Zeiten des Kalten Krieges, als der Feind der Freiheit noch Kommunismus hiess. Die damaligen Freiheitsfeinde jedoch entsprangen westlicher politischer Kultur; Marx war ein Denker mit aufklĂ€rerischen Wurzeln. Die RationalitĂ€t demokratischer Politiker unterschied sich nur in Nuancen von der RationalitĂ€t der Marxisten. Eins und eins ergab am Verhandlungstisch fĂŒr beide Seiten zwei.
FĂŒr Vertreter des Islam jedoch lautet das Ergebnis nur dann zwei, wenn es den eigenen Interessen dient, allenfalls noch aus taktischen Motiven. GrundsĂ€tzlich aber gilt die unerschĂŒtterliche Ăberzeugung, dem absolut ĂŒberlegenen Glaubensbekenntnis anzugehören â und damit ĂŒber die unumstössliche Wahrheit zu verfĂŒgen. WoÂraus sich die Berechtigung zur Herrschaft ĂŒber alle anderen wie von selbst ableitet.
Der Islam ist eine Herrschaftsideologie, die sich als Religion versteht â was zu ihrer GrĂŒnderzeit in den WĂŒsten Arabiens im 7. Jahrhundert auch gar nicht anders möglich war.
Der Versuch, den guten Islam vom schlechten Islam zu unterscheiden, bleibt ein hilfÂloses Unterfangen. Erdogan spottete einst darĂŒber: «Es gibt keinen moderaten und nicht-moderaten Islam. Es gibt nur den Âeinen Islam.»
Die westliche Hilflosigkeit schlÀgt sich nicht zuletzt nieder im Begriff «politischer Islam». Doch der politische Islam ist ein weisser Schimmel!
Auf diesem Schimmel reitet Recep Tayyip ÂErdogan. Unter den Hufen Demokratie und Rechtsstaat.