Frank A. Meyer
Aus der Traum

Publiziert: 24.07.2016 um 12:00 Uhr
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Aktualisiert: 11.09.2018 um 15:50 Uhr
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Frank A. MeyerPublizist

Erdogans Staatsputsch und seine Schrecken sind Thema an jedem Stammtisch, auch am Stammtisch von Facebook und Twitter. Die Message ist in den Demokratien angekommen: das hysterische Stakkato des türkischen Führers, die Verhaftungen und Entlassungen Zehntausender nach vorgefertigten Listen, das zerschlagene Gesicht des Luftwaffenchefs Akin Öztürk nach der Folter.

Deniz Yücel, Journalist der deutschen Tageszeitung «Die Welt» fasst den Terror der letzten Tage in einen bitteren Satz: «Angesichts des Normalzustandes unter dem autoritären Präsidenten wird sich der Ausnahmezustand in der Türkei schon anstrengen müssen, um überhaupt aufzufallen.»

Damit ist alles gesagt. 

Aber was bedeutet es? Hat es jenseits der Tatsache, dass in Zeiten des weltweit zunehmenden Totalitarismus gerade eine weitere Demokratie beseitigt wird, überhaupt eine Bedeutung?

Die Türkei  galt insbesondere für die  Europäische Union als beruhigendes Beispiel, dass sich Islam und Freiheit nicht gegenseitig ausschliessen. Bei Erdogans fulminantem Start als Regierungschef 2003 hoffte man, der gläubige Junge aus ärmsten Verhältnissen möge die Menschen aus dem armen, konservativ-islamischen Anatolien heranführen an die urbane Leistungsgesellschaft in Istanbul oder Ankara. In den Hauptstädten des Westens war man überzeugt, die islamferne Kultur des Staatsgründers Kemal Atatürk werde unter Erdogan zur Grundlage einer Demokratie, die Politik und Religion trennt.

Ein fulminanter Wirtschaftsaufschwung nach marktradikaler Rezeptur schien diese Hoffnung zu stützen: Anatolien profitierte davon ebenso wie die modernen Städte, deren Eliten die Mitgliedschaft in der Europäischen Union anstrebten.

Doch die Türkei als EU-Nation wäre der Quad­ratur des Kreises gleichgekommen: Demokratie, Rechtsstaat – und Islam? Aus diesem Traum ist die Welt vor einer Woche erwacht.

Erdogan betreibt die Zerstörung der offenen Gesellschaft nicht erst seit dem gescheiterten Aufstand des Militärs. Er wollte sie nie. Einst formulierte er den Satz: «Die Demokratie ist nur ein Zug, auf den wir aufsteigen, bis wir am Ziel sind.» Jetzt ist Endstation. Die Türkei steigt aus.

Aber ist eine Kombination Islam und Demokratie überhaupt vorstellbar? Nein! Der Islam ist eine durch und durch politische Religion. Eine religiös überhöhte Herrschaftsideologie mit dem Anspruch, sowohl das Schicksal der gesamten Gesellschaft wie auch das Schicksal des einzelnen Gläubigen zu bestimmen. Unterwerfung ist das Schlüsselwort des Islam. Die Unterwerfung der Frau unter den Mann ist sein Sinnbild – die Quintessenz dieser Religion.

Die westliche Gesellschaft dagegen verlangt von ihren Bürgerinnen und Bürgern lediglich, dass sie sich demokratisch ausgehandelten Entscheidungen fügen, die sie dann nach Belieben kritisieren und bekämpfen dürfen, ganz nach ihrer eigenen Sicht der Dinge. Demokratie ist Versuch und Irrtum, eine Abfolge von Fragen und Antworten und immer neuen Fragen und immer neuen Antworten. Der Islam dagegen ist unverrückbarer Glaube, blindes Vertrauen in Allahs einzige und alleinige Wahrheit.

Dennoch können Muslime Demokraten sein: Wenn sie ihren Glauben leben wie Protestanten und Katholiken – weltlich, als spirituelle Hingabe an eine Glaubensbotschaft, ohne den Anspruch, Koran, Scharia und Überlieferungen über Demokratie und Rechtsstaat zu stellen, ihre religiöse Überzeugung höher zu bewerten als die weltliche Verfassung.

Entgegen aller westlichen Hoffnungen verordnete Erdogan seiner Nation zuerst das Kopftuch. Jetzt stülpt er ihr die Burka über. Dem laizistischen und säkularen Bürgertum der türkischen Städte wird der freie Blick verwehrt.

Die deutsche Sozialwissenschaftlerin Necla Kelek berichtet, eben zurück aus der Türkei: «Frauen, die sich öffentlich ohne Kopftuch zeigen, werden beschimpft – ‹ihr seid unser Verderben›, ruft man ihnen zu. Sie werden belästigt und wagen sich nicht mehr auf die Strasse.»

Ja, in diesen Tagen dreht das Regime von Recep Tayyip Erdogan das Rad der türkischen Geschichte zurück in vormoderne Zeiten. Die modernen Frauen sind seine ersten Opfer.

Und die westliche Zivilisation ist wieder um eine Illusion ärmer. Der Traum, den auch viele freiheitsdurstige Muslime träumten – in der Türkei und in Europa – hat sich in einen Albtraum verwandelt.

Erwachen kann heilsam sein.

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