Bescheidenheit

Publiziert: 05.01.2025 um 00:06 Uhr
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Frank A. MeyerPublizist

Karin Keller-Sutter versteht es, die Worte wohlbedacht zu wählen. Und so schmückte sie ihre Neujahrsansprache als Bundespräsidentin mit dem Satz: «Bescheidenheit ist ein Schweizer Wert.» Wem könnte eine solche Aussage missfallen – im Brustton absoluter Gewissheit vorgetragen, allen Schweizerinnen und Schweizern als Orden für moralische Vorbildlichkeit an die Brust geheftet. Das Präsidialjahr der ebenso eleganten wie eloquenten Mater familias beginnt kuschelig. Und das Land fühlt sich aufgehoben. 

Doch stimmt die Behauptung, Bescheidenheit sei ein Schweizer Wert – eine Schweizer Tugend? Wer so etwas von höchster Stelle coram publico erklärt, der ist schon mal nicht sonderlich bescheiden. Denn Eigenlob stinkt, wobei das böse Verb in eklatantem Kontrast steht zur pädagogischen Absicht von Karin Keller-Sutter: der Schweiz in schwierigen Zeiten Zuversicht zu vermitteln. 

Die Verkündung der Bescheidenheit als hervorragender helvetischer Charakterzug kam der Bundespräsidentin ja nicht ganz ohne Grund und Hintergrund in den Sinn. Die Schweiz ist zweifellos eine unaufdringliche, eine diskrete Nation – lieber am Rand als im Getümmel. Sie lässt sich zwar gern bestaunen, trägt aber den Stolz darüber nicht vor sich her, sondern macht – bescheiden, bescheiden – kein Aufheben davon.

In der Tat, der Alpenrepublik liegt viel daran, unauffällig zu bleiben. 

Wäre es sogar vorstellbar, dass sich hinter der so nüchternen nationalen Fassade eine Absicht versteckt: dass dieser Mangel an Prunk und Protz den Blick der Welt von der unbescheidenen Seite des Schweizer Nationalcharakters ablenken soll – der Gier nach Geld? 

Geht man davon aus, dass es diese peinliche nationale Gier tatsächlich gibt, wäre der Wunsch mehr als verständlich, dabei nicht ertappt zu werden. Ausserdem gehört es zur Geldverliebtheit, dass sie unbedingt und auf jeden Fall, wenigstens so weit wie möglich ein Geheimnis zu bleiben hat – sonst funktioniert das darauf gründende Geschäftsmodell nämlich nicht. 

Dass es funktioniert, beweist eine Zuwanderung der exklusiven Art: Abermilliarden in unterschiedlichsten Währungen haben die Schweiz zum Ziel, als Bleibe oder als Drehscheibe, besonders gern als Versteck. Letzteres bedarf einer Bescheidenheit von ganz besonderer Qualität:

Der Kuhstall ist ein Welttresor. 

Und alle, alle wissen es – die Schweizerinnen und Schweizer, die in der formidabelsten aller Demokratien leben, die diese Demokratie auch beleben, die sie erfüllen mit wirtschaftlicher, mit kultureller, mit wissenschaftlicher Leistung. 

Die Schweiz – das kompetitivste Land der Welt. 

Heimat von Millionen tüchtiger Menschen – allerdings auch Wahlheimat für Milliardäre auf der Flucht vor dem fiskalischen und strafrechtlichen Zugriff ihrer Heimatländer. Neuerdings strömen sogar schon Geldmigranten aus dem befreundeten Norwegen ins Paradies für Portemonnaie-Bonzen. 

Ein Exil in der Schweiz ist das schönste und angenehmste: Die ganze Nation vermittelt eine äusserst selten gewordene Geborgenheit, weil sie so ostentativ bescheiden auftritt und von den doch sehr speziellen Schutzsuchenden nichts weiter verlangt – ausser Geld, das sicher zu verwahren ohnehin den wahren Tugenden der tapferen Eidgenossen entspricht. 

Mehr gibt es zu diesem Thema vorerst nicht zu sagen, denn jedes weitere Wort wäre eines zu viel.

Schliesslich ist Bescheidenheit ein Schweizer Wert.

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