ETH-Präsident Joël Mesot über Grundlagenforschung
Die Tugend der Geduld

Joël Mesot ist Präsident der ETH. Der erste Romand in diesem Amt seit über 100 Jahren. In dieser Kolumne widmet er sich der Wichtigkeit von Grundlagenforschung.
Publiziert: 21.09.2019 um 13:33 Uhr
Joël Mesot ist Präsident der ETH.
Foto: ETH Zürich / Markus Bertschi
Joël Mesot

Zahlreiche Medien im In- und Ausland haben kürzlich darüber berichtet: Einem internationalen Forschungsteam unter der Leitung der ETH Zürich und des Lausanner Start-ups Sensars gelang es, eine Beinprothese zu entwickeln, die betroffene Personen ihren künstlichen Fuss und ihr künstliches Bein fühlen lässt. Die Forschenden haben Sensoren an Fuss und Knie mit den Nerven im Oberschenkel verbunden.

Dank der neuartigen bionischen Prothese fühlen sich die beinamputierten Personen sicherer beim Laufen, und gleichzeitig verspüren sie deutlich weniger Phantomschmerzen. Das ist in der Tat eine tolle Geschichte, die zeigt, dass in der Schnittmenge von Ingenieurwesen, Informatik und Medizin vieles möglich ist, um die Lebensqualität von Menschen zu verbessern.

Grundlagenforschung – ein unberechenbares und launisches Tier

Was allerdings hinter den Schlagzeilen gerne vergessen geht, ist der lange Weg bis zur Publikation der Forschungsresultate und wie lange es in der Regel dauert, bis wissenschaftliche Erkenntnisse in unseren Alltag einfliessen. Im geschilderten Beispiel basiert die Studie auf zwei Probanden. In einem nächsten Schritt wird man die gewonnenen Erkenntnisse an einer grösseren Zahl von beinamputierten Menschen überprüfen müssen.

Grundlagenforschung spielt an technisch-naturwissenschaftlichen Universitäten eine zentrale Rolle – und sie hat ihre Eigenheiten: Sie ist ein unberechenbares und launisches Tier, das sich weder an Amtszeiten noch an Legislaturperioden hält und sich neuen Erkenntnissen auch mal störrisch verweigert. Dennoch brauchen wir diese erkenntnisgetriebene Forschung, wenn wir auch in 10, 20 Jahren noch innovative Produkte entwickeln möchten oder gar die Hoffnung auf den nächsten technologischen Durchbruch hegen.

Die Geschichte der Wissenschaft ist voll von Beispielen, wo vermeintlich unnütze Theorien viel später eine Anwendung fanden. Manchmal reicht ein ganzes Forscherleben nicht aus, um die praktischen Früchte der eigenen Denkarbeit noch zu ernten.

Geduld und Kenntnis des Wissenschaftsbetriebs sind gefragt 

Bildgebende Verfahren wie MRI, die heute für die medizinische Diagnose eingesetzt werden, haben ihre Ursprünge in den 30er-Jahren. Die beiden ETH-Nobelpreisträger Richard Ernst und Kurt Wüthrich haben später die Grundlagen um wichtige Erkenntnisse erweitert. Albert Einstein erhielt 1921 den Nobelpreis für eine Arbeit, in der er den photoelektrischen Effekt nachweisen konnte. Seine Theorie sollte Jahrzehnte später mit der Entwicklung von Solarzellen einen sehr praktischen Wert erhalten. Salopp ausgedrückt könnte man sagen: Albert Einstein war einer der Begründer der Energiewende.

Auch unser Navi mit eingebauter GPS-Technologie wäre ohne Einsteins Relativitätstheorie nicht denkbar beziehungsweise es verlöre schnell seine Genauigkeit. Um ein Navigationsgerät zu verwenden, braucht es zum Glück keine Kenntnisse der ihr zugrunde liegenden Theorie. Aber wir sollten uns bewusst sein, dass nicht alles in der Wissenschaft einen unmittelbaren Nutzen hat.

Gute Grundlagenforschung wird eine Anwendung finden – man weiss nur nicht wann. Deshalb hilft es enorm, wenn nicht nur die Forschenden selber, sondern auch die Politikerinnen und Politiker diese Eigenheiten des Wissenschaftsbetriebs kennen und mit einer gesunden Portion Geduld gesegnet sind.


Ihr Joël Mesot

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