Editorial zum Regimesturz in Syrien, den keiner kommen sah
Was machen unsere Geheimdienstler beruflich?

Eine Miliz stürzt den Diktator in Damaskus und kippt die Machtordnung in Nahost. Der Coup offenbart das Versagen der westlichen Nachrichtendienste.
Publiziert: 15.12.2024 um 00:01 Uhr
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Aktualisiert: 15.12.2024 um 11:59 Uhr
Reza Rafi, Chefredaktor SonntagsBlick.
Foto: Philippe Rossier

HTS war bis vor kurzem nicht mehr als eine Buchstabenfolge. Die Google-Suche ergab einen südeuropäischen Weinproduzenten und eine asiatische Bildungseinrichtung. Im Schweizer Handelsverzeichnis sind unter dem Kürzel ein paar Firmen eingetragen. Am Sonntag vor einer Woche wurde HTS über Nacht zum weltbekannten Akteur.

Die syrische Islamisten-Miliz fegte vom Wüstenkaff Idlib aus die Assad-Diktatur hinweg. Ein Desaster für deren Verbündete Iran und Russland, eine Zäsur mit unbekannten Auswirkungen für die Region – und für die Sicherheitslage bei uns.

Überrascht von diesen Vorgängen wurden auch die staatlichen Aufklärer im Westen. Der Nachrichtendienst des Bundes (NDB) etwa erwähnt die Gruppe, die soeben die geopolitischen Koordinaten verschoben hat, in seinem Jahresbericht 2024 mit keinem Wort. 

Kernaufgabe des NDB ist es, mit seinen Informationen die Grundlagen für das Handeln der Regierung zu liefern. Es wäre von Vorteil zu wissen, ob HTS Grund zur Hoffnung gibt oder ob eine Neuauflage des IS droht.

Von den staatlichen Schnüfflern ist dazu nichts zu vernehmen. Normalerweise sind die NDB-Chefs nicht allzu diskret. Gerne warnen sie vor Gefahren, die gerade die Schlagzeilen beherrschen, seien es radikalisierte Jugendliche, Links- und Rechtsextreme oder russische Spione. Dabei geht es um Lobbying in eigener Sache. So gab NDB-Direktor Christian Dussey im Oktober per Interview seinen Wunsch nach 150 zusätzlichen Mitarbeitern bekannt. Die Fähigkeit seiner Leute, Bedrohungen zu erkennen und verhindern, habe sich «verschlechtert». Vielleicht hätten die 150 zusätzlichen Aufklärer den Umsturz in Syrien vorausgesehen.

Der ehemalige NDB-Chef Markus Seiler sagte einmal, seine Leute müssten «das Gegenteil von James Bond» sein. Damit meinte er, dass sie möglichst unauffällig arbeiten sollten. «Mr. Bean»-Darsteller Rowan Atkinson interpretierte den Anti-Bond auf seine Weise – als trotteligen Geheimagenten Johnny English. Motto der Komödie: «Er hat keine Furcht, er hat keine Angst, er hat keine Ahnung.» Im Syriendossier könnte English locker mit dem NDB und seinen westlichen Partnern mithalten.

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