Editorial zu Gerhard Pfisters Tabubruch
In der Zuwanderungsdebatte dreht der Wind

Der Mitte-Präsident stellt offen die Personenfreizügigkeit mit der EU infrage. Ein untrügliches Zeichen, dass sich in der Migrationspolitik die Mehrheiten verschieben.
Publiziert: 18.08.2024 um 09:37 Uhr
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Aktualisiert: 18.08.2024 um 12:19 Uhr
Reza Rafi, Chefredaktor SonntagsBlick.
Foto: Philippe Rossier
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Reza RafiChefredaktor SonntagsBlick

«Haltet nach eurem Grossvater Ausschau!», ruft der Vater seinen Kindern zu. Woher weiss er, dass der Älteste im Anmarsch ist? Der Vater antwortet: «Ich habe sein Kommen gespürt an der Stelle seiner alten Wunde.» 

Es ist eine besondere Art menschlicher Sinneskraft, die Elias Canetti in seinem Klassiker «Masse und Macht» als «Vorgefühl der Buschmänner» beschreibt: «Die Buschmänner spüren das Kommen von Menschen, die sie weder sehen noch hören können, aus der Ferne. Sie haben auch ein Gefühl dafür, dass Wild sich nähert.»

Das Vorgefühl wäre auch in der Politik eine höchst nützliche Eigenschaft. In Bundesbern, wo nur wenige ein besseres Gespür für politische Entwicklungen zu besitzen scheinen als der Mitte-Präsident, würde man sie vielleicht am ehesten Gerhard Pfister zugestehen.

Diese Woche hat er via «NZZ» ein Tabu gebrochen: Als erster Player ausserhalb der SVP rüttelte Pfister an der Personenfreizügigkeit mit der EU. Er fordert eine Schutzklausel für Zuwanderung und mahnt, die Schweiz dürfe «kein zweites Monaco» werden. Ökonomisch möge die Zuwanderung zwar ein Segen sein, so der Zuger, «aber gesellschaftlich stellt sie die Kohäsion in unserem Land und das Heimatgefühl breiter Schichten infrage».

Pfister würde wohl kaum so argumentieren, würde er nicht ahnen, dass in der Migrationspolitik der Wind dreht – dass nach zwei Jahrzehnten offener Grenzen mit Europa und anderthalb Millionen zusätzlicher Einwohnerinnen und Einwohnern alle Anzeichen auf eine Verschiebung der politischen Mehrheiten hindeuten. Und dass es in der Schweiz eigentlich keine Migrationspolitik mehr gibt, weil Migrationspolitik alles durchdringt – Finanzen, Steuern, Soziales, Sicherheit, Bildung.

Ob sie bei einer Zeitenwende die Uhr umstellen müsse, fragt die österreichische Kabarettistin Lisa Eckhart, die sich über die ausufernde Verwendung des Begriffs lustig macht. Vielleicht aber bahnt sich beim Zuwanderungsthema tatsächlich eine Zeitenwende an. 

Pfisters Gegner werfen ihm nun Opportunismus vor. Was gar nicht so weit von Canettis Ausführungen entfernt liegt: Er verbindet das Vorgefühl mit der Fähigkeit «zu Verwandlungen in einer überaus einfachen Form».

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