Editorial über Zuwanderung und das Feindbild Singapur
Die Welt als Wille und Wermuth

Wovor fürchten sich die Leute, wenn sie vom «Alpen-Singapur» reden? Wirklich vor dem, was der Co-Präsident der Sozialdemokraten meint? Oder vor dem, was er verschweigt? Die Antwort ist politisch entscheidend.
Publiziert: 01.12.2024 um 08:33 Uhr
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Aktualisiert: 01.12.2024 um 15:46 Uhr
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Reza RafiChefredaktor SonntagsBlick

Eine düstere Vision schwebt über den Gipfeln der Schweiz: die Eidgenossenschaft als Alpen-Singapur. 

Das Nein zum Autobahnausbau, mit dem die Bürgerlichen ihr verkehrspolitisches 1992 erlebten, ist auch ein Nein zu dieser Zukunftsperspektive.

Einst war die Vorstellung eines helvetischen «City-State» positiv besetzt; Bankier Konrad Hummler hatte sie vor zwei Jahrzehnten als Gegenentwurf zum EU-Beitritt lanciert, heute dient sie als politische Drohkulisse. Auch Cédric Wermuth zog am Freitag in einem Interview mit den Tamedia-Zeitungen die Singapur-Karte: «Wenn es nach den Bürgerlichen geht, wird die Schweiz zum Alpen-Singapur», warnt der Co-Präsident der SP.

Was aber meint Wermuth damit? Er beschreibt den südostasiatischen Stadtstaat als eine Art neoliberale Hölle, mit «tiefen Steuern und kaum sozialen, gleichstellungspolitischen oder ökologischen Regeln für die Unternehmen». Mit den Fakten nimmts der Parteichef nicht so genau: Singapur kennt eine progressive Einkommenssteuer ganz nach sozialdemokratischem Gusto. Der Durchschnittslohn eines Nationalrats von etwas mehr als 130’000 Franken würde dort mit 19 Prozent besteuert. Punkto Gleichstellung gehört der Tigerstaat dank Gesetzen wie dem über «Fairness am Arbeitsplatz» zu den Musterschülern, auf dem «Gender Equality Index» der Uno belegt er den achten Platz. Im Umweltschutz ist man dank des ehrgeizigen «Singapore Green Plan» Asiens Zugpferd.

Der markante Unterschied zwischen Singapur und der Schweiz ist – neben dem politischen System – die Bevölkerungsdichte. Dort leben auf einer Fläche wie der des Kantons Solothurn sechs Millionen Menschen. Das ist des Pudels Kern, das ist es, was die Leute hier nicht wollen. 

Doch gibt sich der Taktiker Wermuth trotzig entspannt. Ihm mache die Zuwanderung aus Sicht der Infrastruktur «keine Angst». Eine Schweiz mit zwölf Millionen Menschen? Das sei für ihn «kein Wunsch», aber «machbar».

Damit tickt Wermuth, der die Landsleute vor Singapur warnt, viel singapurischer als seine politischen Feindbilder. Mit dieser Haltung wird sich die Schweizer Linke verlässlich eine Klatsche einfangen, wie sie ihre Gegner am Sonntag erlitten.

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