Editorial über die Schweiz, Europa und die Neutralität
Ungeniert unverbindlich

Sich nicht festzulegen ist schwer in Mode. Die Eidgenossen hatten die Gerissenheit, dieses Prinzip zur Staatsräson zu erheben. Nur in einem Bereich gerät dieses Verhaltensmuster unter Druck.
Publiziert: 29.12.2024 um 08:58 Uhr
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Aktualisiert: 29.12.2024 um 18:40 Uhr
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Reza RafiChefredaktor SonntagsBlick

Für die einen muss es eine kühle Flasche Laurent-Perrier Grand Siècle sein. Den anderen reicht eine stubenwarme Dose Lagerbier. Der Wirkstoff ist derselbe. Rausch kennt keine Schichten.

Wenn Silvester vor der Tür steht, gönnt sich die Leistungsgesellschaft wieder mal ein Quäntchen Spass. Dionysisch statt diszipliniert – zumindest für ein paar Stunden.

Die Altjahrswoche ist aber auch die Zeit des grossen Umtauschs: In Massen werden Weihnachtsgeschenke retourniert und Pakete zurückgesandt. Dann offenbart sich eine typische Eigenschaft unserer Tage: Wir wollen uns nicht mehr festlegen. Wer seine Liebsten bescheren will, behält selbstverständlich die Quittung – den Beschenkten soll jede Option offenbleiben. Wenn wir Ferien buchen, achten wir als Erstes auf die Stornierungsmöglichkeiten, und bei Tischreservationen leiden die Wirte zunehmend unter «No-Shows» ihrer vermeintlichen Gäste. Das Muster zeigt sich auch in der Partnerwahl, wo die Scheidungsrate und die Anzahl Singlehaushalte Bände sprechen.

Diese Abneigung, sich behaften zu lassen, mag von universeller Natur sein – nur die Eidgenossen aber hatten die Genialität, dieses Prinzip zu ihrer Staatsräson zu erheben und unter dem Namen Neutralität in der Verfassung zu verankern.

Dank dessen können wir es uns sogar leisten, bei einem völkerrechtlichen Verbrechen wie dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine abseitszustehen und uns vor einem verbindlichen Positionsbezug zu bewahren.

In einem Bereich aber wird die Alpenrepublik plötzlich gezwungen, ihr Credo der Nichtfestlegung zu durchbrechen: beim Verhältnis zur Europäischen Union. Seit Jahren drücken wir uns erfolgreich vor einem definitiven Bekenntnis in die eine oder andere Richtung. Das Europa-Dossier ist ein Knorz, weil Brüssel von der Schweiz etwas verlangt, was ihrem Selbstverständnis zutiefst widerstrebt: sich festzulegen – sogar bis über die heutigen Gesetze hinaus. Haben die EU-Diplomaten ein Gespür dafür?

Sicher ist: Bis zum Tag der Entscheidung werden wir noch einige Mal anstossen können. Ein Prosit aufs neue Jahr.

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