Das Ungetüm versteckt sich in einem alten Nato-Bunker irgendwo im hohen Norden. Der einstige Schutzraum dient heute als riesiges Rechenzentrum, in dem «ein Grossteil unserer aller Daten von den gigantischen Softwarefirmen» aufbewahrt wird, gekühlt durch acht Grad kaltes Fjordwasser, wie das wegen der immensen Hitzeentwicklung der Maschinen nötig ist.
Dieser fiktive Schauplatz kommt im neuen Roman von Christian Kracht vor. Er nimmt den Leser mit auf eine Reise durch verflochtene Visionen einer anderen Gegenwart; «Air» heisst das Werk, Luft – also das, was wir zum Leben brauchen, was Menschen von Maschinen, was natürliche Intelligenz von künstlicher Intelligenz unterscheidet.
Im «Green Mountain Data Centre» lagert nicht weniger als das «Gedächtnis der Menschheit», wie der Schweizer Schriftsteller es formuliert. Dort werde «jede einzelne Fotografie der jährlichen Trillionen mit Mobiltelefonen aufgenommenen Erinnerungen» gesammelt. «Alle Hochzeiten, die Kirschblütenzeit in Japan, alle Geburten, Reaktorunfälle, Insektenschwärme, kleine Katzenbabys, die mit Wollknäueln spielten, Kriegsversehrte, Palmen im Sonnenuntergang, 5 Milliarden Fotos am Tag.»
Gewiss sind das wilde Fantastereien eines gereiften Popliteraten. Doch führen sie treffsicher etwas vor Augen: Die unheimliche Macht von Big Tech. Unser Denken, unser Leben, unser Dasein – vieles davon liegt in den Händen privater Konzerne. Der linke Ökonom und griechische Ex-Finanzminister Yanis Varoufakis nennt das «Cloud Capital». Diese neuartige Form von Kapital kontrolliere nicht mehr bloss die wirtschaftlichen Produktionsmittel, sondern die ganze Art und Weise, wie wir kommunizieren, unsere Meinungen bilden und handeln.
Es wirkt deshalb fast rührend, wenn Trump-Gegner den Boykott von Big Macs, Nike-Schuhen oder Tesla-Autos fordern: Denn diese Leute diskutieren das wahrscheinlich auf Facebook, Linkedin, Instagram oder Whatsapp. Und auf einem Smartphone von Apple oder einem Computer mit Microsoft-Betriebssystem.
Europa ist im technologischen Wettlauf die Insel Liliput.
Auch der Fabulierer Kracht kennt kein Mittel dagegen – es bleibt ihm in seiner Erzählung nur noch, einen mächtigen Sonnensturm über das «Green Mountain Data Centre» hinwegfegen zu lassen.