Freitagmittag vor dem Bundeshaus: Von vorweihnachtlicher Stimmung keine Spur. Stattdessen Gejohle, Glockengeläut und lila «Mass-Voll!»-Leibchen. Irgendwo ragt ein selbst gebastelter Gesslerhut aus der Menge. Kurze Panik: Sind wir in ein Wurmloch geraten und in der Covid-Pandemie gelandet? Zum Glück Fehlalarm. Die Leute auf dem Bundesplatz demonstrieren diesmal nicht gegen Corona-Massnahmen, sondern gegen Ursula von der Leyen.
Die EU-Kommissionspräsidentin war von Brüssel nach Bern gejettet, um mit Amtskollegin Viola Amherd den Abschluss der bilateralen Verhandlungen zu feiern. Nach zermürbenden Jahren und 197 Sitzungen liegt nun – endlich! – ein Resultat vor. Der Öffentlichkeit wird das Vertragswerk zwar erst im Mai präsentiert, doch rapportieren die Bundesratsmitglieder stolz die Trophäen ihrer Unterhändler: eine mutmasslich griffige Schutzklausel in Sachen Zuwanderung, Fortschritte beim Lohnschutz und der Unionsbürgerrichtlinie, Verschonung der Landwirtschaft und ein System zur Streitbeilegung – zwar höchst kompliziert, aber gnädiger als befürchtet. EU-Befürworter sehen sich im Aufwind, das Narrativ vom helvetischen Achtungserfolg macht die Runde.
Für die SVP jedoch sind die neuen Kritikpunkte die alten: automatische Rechtsübernahme, Beschneidung der Volksrechte, Verlust von Souveränität. Also klare Verhältnisse im Lager der EU-Gegner? Mitnichten!
Denn angesichts der Szenerie auf dem Bundesplatz stellt sich eine Frage, die bereits die Euroturbos umtreibt: Wer, bitte schön, soll diesen Kampf anführen? «Mass-Voll!»-Chef Nicolas Rimoldi posierte mit einer Hellebarde vor dem Parlamentsgebäude, die Parteispitze der SVP um Präsident Marcel Dettling und Magdalena Martullo tat es ihm gleich. Aber lässt sich die epochale Europa-Abstimmung, die «Mutter aller Schlachten», tatsächlich mit der Hellebarde gewinnen? Ist die mittelalterliche Hieb- und Stichwaffe wirklich das ideale Instrument, um die Frauen, den Mittelstand und die Städter zu gewinnen, die für eine Mehrheit an der Urne gebraucht werden? Leise Zweifel sind angebracht. Noch werden sie von Trychler-Glocken übertönt.