Der Bart ist ab. Im Herbst kämpfte Paul Rechsteiner noch mit heiligem Ingrimm gegen das Rahmenabkommen mit der EU. Der Vertrag bedeute das Ende des Schweizer Lohnschutzes, sagte Rechsteiner damals in jedes Mikrofon. Inzwischen amtet der bekannteste Schnauzträger des Landes nicht mehr als Präsident des Gewerkschaftsbundes. Er und sein Oberlippenbart sind von der Bildfläche praktisch verschwunden. Dies übrigens, obwohl Rechsteiners Nachfolger den Posten erst im Mai antritt.
Der Bart ist auch deshalb ab, weil die Sozialdemokratische Partei neuerdings nicht mehr als blosse Handlangerin der Gewerkschaften erscheinen möchte. Das Ja der FDP zum Rahmenvertrag und vor allem der Parteiaustritt von alt Nationalrätin Chantal Galladé kurz vor den Wahlen im Kanton Zürich: Die beiden Ereignisse haben die SP zumindest rhetorisch zur Kurskorrektur gezwungen. Die Partei sagt nicht mehr «Nein, aber» zum Rahmenabkommen, sondern «Ja, aber».
Corrado Pardini ist also gleich doppelt gefordert. Nach Paul Rechsteiners Rücktritt als SGB-Präsident ist Pardini der wichtigste Gewerkschafter im Bundeshaus. Im Gespräch mit SonntagsBlick-Redaktor Simon Marti legt der SP-Nationalrat und Unia-Funktionär jetzt seine Argumente auf den Tisch, warum er das Rahmenabkommen so
vehement bekämpft.
In den Fällen, die Corrado Pardini erörtert, gibt es in der Tat kein Pardon. Es geht um krasse Verstösse gegen die Lohnvorschriften. Und zwar in allen möglichen Branchen des Baunebengewerbes – Elektriker, Metallbauer, Polymechaniker.
Die Beispiele zeigen: Ja, die Saläre in der Schweiz stehen unter Druck. Und: Dieser Druck stammt von der Konkurrenz aus dem EU-Raum.
Doch sind die präsentierten Belege für Missbrauch überzeugende Argumente gegen das Rahmenabkommen, so wie es Pardini behauptet? Offensichtlich findet Lohndumping ja schon heute statt.
In der Tat braucht man das Kind nicht mit dem Bad auszuschütten. Die vielen Dumpingfälle sollten die bürgerlichen Befürworter des Rahmenabkommens jetzt allerdings dazu veranlassen, ein Bekenntnis zu einem besseren Lohnschutz abzulegen. Es geht dabei in erster Linie um eine Ausweitung und Intensivierung der Lohnkontrollen.
Wer sich dieser Tage bei den FDP-Vertretern im Bundeshaus umhört, vernimmt
Triumphgeheul und beinahe kindliche Schadenfreude über die Flügelkämpfe innerhalb der SP. Den Gewerkschaften die Hand reichen möchte im Augenblick leider niemand.
Dabei stünden die Chancen gut für einen gemeinsamen Neuanfang. Zeitgleich mit Paul Rechsteiner ist Johann Schneider-Ammann von der Bildfläche verschwunden. Mit Blick auf den Lohnschutz verkündete der freisinnige Wirtschaftsminister immerzu das Mantra: «Kein Abbau und kein Ausbau.»
Wenn sie das Rahmenabkommen mit der EU wirklich will, kann die FDP diesen Grundsatz nicht durchhalten. Freiwillig ein paar Haare lassen und Kompromissbereitschaft signalisieren – das müssen nun auch die Europafreunde rechts der Mitte.