Am Mittwoch, kaum zwei Monate nach den Wahlen, verkündete Olaf Scholz als künftiger SPD-Kanzler den Erfolg seiner Koalitionsverhandlungen mit den Grünen und Liberalen. Nach den letzten Wahlen 2017 scheiterte der Versuch einer Jamaika-Koalition (CDU/CSU, FDP und Grüne), und erst vier Monate später gelang die Neuauflage der Grossen Koalition (CSU/CSU und SPD) unter Angela Merkel. Im Vergleich zum damaligen Debakel beweist diese Regierungsbildung eine hohe Professionalität und eine bemerkenswerte Diskretion der 300 Politiker und Politikerinnen aus den drei Parteien, die in 22 Arbeitsgruppen die 177 Seiten des Koalitionsvertrags aushandelten. Zum Leidwesen der Medien sickerten so gut wie keine Details aus dem internen Hickhack ihrer wochenlangen Verhandlungen durch.
«Mehr Fortschritt wagen», steht über diesem «Bündnis für Freiheit, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit». Damit will die Ampel die Lethargie der letzten Merkel-Jahre überwinden. Es ist ein Kompromiss zwischen den sozialen, ökologischen und liberalen Positionen der drei Parteien. Die kleinste der drei, die FDP, hat sich am besten durchgesetzt. Christian Lindner, der seine Partei aus der Nahtoderfahrung in den Wahlen von 2013 – die FDP flog damals aus dem Bundestag – zum zweistelligen Erfolg zurückführte, wird nicht nur Finanzminister. Seine Partei erhält zusätzlich das wichtige Verkehrs-, das Bildungs- sowie das Justizministerium und blockiert mit der Schuldenbremse und dem Verzicht auf neue Steuern die Ausgabenfreudigkeit der andern zwei Partner. Für den Porsche-ahrer Lindner gibt es kein Tempolimit 130.
Die SPD sichert sich die Vormachtstellung mit der Kanzlerschaft und setzt ihre sozialen Akzente durch die Erhöhung des Mindestlohns, durch die Mindestrente und das neue Bürgergeld als Sozialhilfe. Zwar zieht sich der Klimaschutz wie eine Leitlinie durch das ganze Programm – die Grünen erhalten fünf Ministerien, Robert Habeck wird Vizekanzler und Annalena Baerbock Aussenministerin. Trotzdem müssen die Grünen befürchten, dass fehlende Mittel und Rückschläge im ökologischen Umbau dann vor allem ihrer Partei angelastet werden. Der Kohleausstieg wird nur «idealerweise» «bis 2030» vorverschoben.
Die erschreckende Schattenseite dieser sonst so erfolgreichen Regierungsbildung ist die Katastrophe der Corona-Epidemie. Unentschlossenheit, Zögern und chaotische Kommunikation haben es zugelassen, dass die Zahl der Toten 100’000 überschreitet und weiter rasant zunimmt. Während sich Angela Merkel als kommissarische Kanzlerin lange zurückhielt, schien Olaf Scholz den Widerstand der Liberalen gegen einschneidende Massnahmen mehr zu fürchten als einen Kollaps des Gesundheitswesens. Es wird noch «beobachtet», über G2 und Impfpflicht bundesweit nur mal debattiert.
Hilft uns die neue Regierung in Berlin in unserem Konflikt mit Brüssel? Aus drei Gründen nein. Erstens ist unser Europaproblem für Berlin nicht relevant, die Schweiz ist nicht auf der Agenda. Zweitens setzt der Koalitionsvertrag, vor allem unter dem Einfluss der Grünen, einen klaren Schwerpunkt auf die Stärkung der EU und eine konsequentere Durchsetzung ihrer Prinzipien, was kaum auf Flexibilität für den «Sonderfall» Schweiz hoffen lässt. Und drittens erwartet Brüssel von Bern jetzt Vorschläge zu Inhalt und Fahrplan für eine Alternative zum Rahmenabkommen. Erst wenn wir damit den Dialog mit Brüssel wieder aufnehmen wollen, wäre es möglich, dann die deutschen Freunde um Unterstützung anzugehen. Für unsere jetzt anstehenden Hausaufgaben können wir keine Hilfe aus Berlin erwarten.