Im aktuellen SonntagsBlick schildert meine Kollegin Aline Wüst einen Skandal von unermesslicher Tragweite: Wie eine interne Untersuchung des Bundesamtes für Polizei zeigt, kümmern sich die Schweizer Polizeikorps kaum um das Thema Kindesmissbrauch.
Der Autor der Bundespolizei-Studie ortet «Ermittlungsdefizite» und schreibt: «Zahlen und Fakten aus der einschlägigen Polizeiarbeit in der Schweiz kontrastieren mit der Schwere und Verbreitung dieser besonders verwerflichen Form der Schwerstkriminalität, welche die Schwächsten einer Gesellschaft nachhaltig schädigt.»
Die Gefahr, die von Pädophilen ausgeht, wird vom Internet um ein Vielfaches verstärkt. Da sitzt etwa einer in seiner Stube im Schweizer Mittelland und führt per Livestream Regie beim sexuellen Missbrauch eines Kindes irgendwo in Südostasien. Da tauschen sich Pädokriminelle im Darknet darüber aus, wie sie das Risiko verringern, erwischt zu werden: Dreijährige könnten kein Geheimnis für sich behalten, Säuglinge seien für sexuelle Praktiken grundsätzlich die beste Wahl.
Die Polizisten könnten mit der technischen Entwicklung kaum Schritt halten, heisst es im Bericht des Bundes. Obendrein fehlten ihnen die personellen Ressourcen.
Bei den Kantonen wehrt man sich gegen diese Darstellung. Man ist sich nicht zu schade zu behaupten: Der Bericht sei veraltet – dabei stammt er vom Sommer 2019. Handlungsbedarf sieht man nicht. Selbstverständlich geniesse das Thema oberste Priorität.
Hat sich das Bundesamt für Polizei mit seiner Analyse also vertan? Geschieht den Kantonen grosses Unrecht? Ein Blick in aktuelle Jahresberichte der verschiedenen Polizeikorps führt zu einer klaren Antwort: Dem ist leider nicht so.
Im Jahresbericht der Kantonspolizei Aargau beispielsweise liegt die oberste Priorität bei dieser Meldung: «Aargauer Strassen sind im nationalen und internationalen Vergleich sehr sicher.»
Im Kanton Zürich stand 2018 «die erhöhte Terrorbedrohung im Vordergrund» der Polizeiarbeit. Und bei der Kapo Luzern spricht der zuständige Regierungsrat in seinem Vorwort ausschliesslich über den Respekt, der Polizisten entgegengebracht werden solle.
Allen Jahresberichten gemeinsam ist: Das Thema Kindesmissbrauch findet sich irgendwo unter ferner liefen auf den hinteren Seiten, wo man es beim unkommentierten Abdruck einiger Kennzahlen bewenden lässt.
Die Polizeikorps und die zuständigen Regierungsräte könnten die Analyse des Bundes zum Anlass nehmen, mehr Mittel für die Bekämpfung von Pädokriminalität zu beantragen. Sie könnten die Analyse zum Anlass nehmen, mehr Handlungsspielraum bei der verdeckten Internetrecherche zu fordern – so, wie dies der Studienautor selber anregt.
Dass sie dies nicht tun, lässt nur einen Schluss zu: Offenbar ist Behörden und Politik das Thema nicht wichtig genug.
Warum das so ist? Die misshandelten Kinder leiden still. Selten zeigt jemand später im Leben mit dem Finger auf seinen Peiniger – geschweige denn auf diejenigen, die sich durch Wegschauen zu Komplizen gemacht haben.