Das künftige amerikanische Präsidenten-Team Joe Biden und Kamala Harris hält Fairness, Anstand, Hoffnung, Vielfalt hoch. Vor ein paar Jahren hätte er die Rede von Biden allenfalls als klischeehaft und kitschig empfunden, nach den letzten vier Jahren hätten ihm die Worte Tränen in die Augen getrieben, äusserte sich der bekannte Historiker Yuval Harari. Der Starautor hat ein feines Gespür für Umbrüche und Zeitenwenden. Er sieht sie als Symbol der Hoffnung.
Nun kommen also Biden und Harris und wollen für alle Menschen da sein, sprechen von «heilen» und «genesen». Aus gutem Grund. Laut der American Psychological Association empfinden rund 70 Prozent aller US-Bürger die Wahlen als erheblich psychologisch belastend. Die «Psychology Today» berichtet, dass seit Amtsantritt des Präsidenten der Begriff «Trump-Angst-Störungen» für Therapeuten zum Sprachgebrauch gehört. Darunter fallen Schlafstörungen, Herzrasen, Depressionen. Täglich mit den in den Medien dominierenden Bösartigkeiten zu leben, laugt aus. Streit und Zwiespalt ist erschöpfend.
Das Team spricht auch von Vergebung, davon, Menschen zu einen, davon, Gefühle in der Öffentlichkeit zu zeigen und vor allem auch davon, die Freude am Leben wieder zu finden. Manche Kommentatoren nennen das spöttisch «Nice Guy Politics», Gutmensch-Politik. Und meinen damit den väterlichen und empathischen Biden, der sich mit starken Frauen umgibt und wie ein gütiger, sensibler Neuzeit-Grossvater wirkt.
Neuseeland machts vor
Ist dieser Spott angebracht? Kann politische Kultur nicht freundlich sein? Naive Wunschvorstellung? Eben nicht. Es gibt sie, die Politik der Freundlichkeit.
Die neuseeländische Premierministerin Jacinda Ardern feiert mit ihrer Politik der Freundlichkeit, des Mitgefühls und der Rücksicht dieses Jahr erdrutschartige Siege. Ardern wurde vor drei Jahren die jüngste Premierministerin der Welt. Sie hatte keine Mehrheit und musste mit der populistischen Partei eine Koalition bilden. Aber sie hat diese drei Jahre lang zusammengehalten, geduldig, tolerant, in endlosen respektvollen Debatten und Kompromissen.
Sie sieht sich und das Volk als Team. Sie hat Neuseeland als «Team von 5 Millionen» heil durch das Corona-Jahr geführt, was ihr international Respekt eingetragen hat. Sie gilt als weiblicher Anti-Trump und wirbt unermüdlich für Freundlichkeit. Freundlichkeit sei die Führungsstärke, die wir zurzeit am nötigsten brauchen. Gerade in diesem schwierigen Jahr. Die junge Mutter sagt, es brauche Menschen an der Spitze, die sich einfühlen können in die Lebensumstände anderer, die sich aber auch in die nächste Generation einfühlen können, für welche die Politiker heute so viele folgenreiche Entscheidungen treffen. Wenn man sich nur stark zeigen dürfe und mächtig, dann würden Politiker das verlieren, für was sie da sein sollten, ihre Menschlichkeit, stellt Ardern klar.
Die Politik hat sich in Neuseeland unter Arderns freundlicher Führung mittlerweile radikal geändert. Fast die Hälfte der Parlamentarier sind nun Frauen, gut vertreten sind neu auch Lesben und Schwule, Maoris, und auch Parlamentarier mit Migrationshintergrund sind neu dabei. Die Mehrheit der Neupolitiker ist zudem jünger als je zuvor.
Heute wirkt Arderns seit Jahren gelebte Vision der Freundlichkeit fast prophetisch. Die Zeit abgebrühter und abgestumpfter Politiker ist vorbei. Mehr denn je benötigt die Welt solche, die auch Herz haben und sich kümmern.
Wir haben das Gekeife satt
Könnte auch die Schweizer Politik freundlicher sein? Bisher haben Parlamentarier auf meine Frage eher mit Kopfschütteln denn Begeisterung reagiert. Streiten, sich fetzen, angreifen, das gehöre zur Politik, das definiere Politikkultur. Punkt. Aber warum denn nur? Ist das wirklich Politik? Und können wir sie nicht künftig anders gestalten? In der Wirtschaft wird schon länger und entschieden die Kraft und Stärke, aber auch die respektvolle Berücksichtigung verschiedener Standpunkte beschworen, die zu den besten Resultaten führe. Die Forschung ist sich des Wertes rücksichtsvoller Unternehmenskulturen längst bewusst, man arbeitet am Teamgeist, und Zusammenarbeit wird gefördert. Was also spricht genau gegen freundliche Politikkultur?
Die Wählerinnen würden den Politikern mehr Freundlichkeit danken. Sie haben sie so satt, diese streitenden, keifenden Politiker, die einander nicht zuhören, sich nicht einfühlen, nicht verstehen wollen, laut, uneinsichtig vorgefasste Parolen wiedergeben. Zänkisch ist kindisch. Und es ist das Gegenteil dessen, was in unseren Familien zählt und was wir unseren Kindern mitgeben: Kooperation, Teamgeist, Respekt. Die Politikverdrossenheit ist auch dieser ständigen Streitkultur geschuldet.
Viele Menschen sehnen sich nach Frieden und Respekt. Freundlichkeit ist eine politische Macht. Stark und einfühlsam sein, das geht. It's cool to be kind … #aufbruch
Patrizia Laeri (42) ist Wirtschaftsjournalistin des Jahres und Top Voice Linkedin DACH. Sie ist Beirätin im Institute for Digital Business der HWZ. Laeri schreibt jeden zweiten Mittwoch im BLICK.