Eben feierten wir Friedrich, nun feiern wir Friedrich: Nach dem 100. Geburtstag von Dürrenmatt am 5. Januar, der sich mit Krimis wie «Der Richter und sein Henker», «Der Verdacht» und «Das Versprechen» einen Namen machte, steht am 4. Februar der 125. von Glauser an. Gut eine Generation älter, gilt er mit seinen «Wachtmeister Studer»-Romanen als Vater der Detektivgeschichte im deutschsprachigen Raum.
«Daten wollen Sie?», schreibt Friedrich Glauser 1937 an einen Freund. «Also: 1896 geboren in Wien von österreichischer Mutter und Schweizer Vater. Grossvater väterlicherseits Goldgräber in Kalifornien (sans blague), mütterlicherseits Hofrat (schöne Mischung, wie?).» Eine explosive Mischung: Friedrich ist vierjährig, als seine Mutter wegen einer Blinddarmentzündung stirbt, und nach der Wiederverheiratung des gestrengen Vaters entwickelt sich der Sohn zum rebellischen Jugendlichen, der sich mit Lehrern anlegt.
«Der Weg vom jugendlichen Rebell bis zum Schriftsteller ist lang und voller Hindernisse», schreibt die Literaturwissenschaftlerin Christa Baumberger (46) in ihrem eben herausgegebenen Buch «Jeder sucht sein Paradies …», das Briefe, Berichte und Gespräche von und zu Friedrich Glauser beinhaltet. Baumberger ist eine ausgewiesene Kennerin des Autors: Sie schrieb ihre Doktorarbeit zu Glauser und war von 2009 bis 2018 Kuratorin seines Nachlasses am Schweizerischen Literaturarchiv der Nationalbibliothek in Bern.
Einziger Schweizer Autor in der Dada-Szene
Für den vorliegenden Band mit 298 Dokumenten – rund die Hälfte davon ist bisher unveröffentlicht – recherchierte Baumberger fünf Jahre in Archiven Frankreichs, Deutschlands und der Schweiz. Vor allem die Sichtung der Akten im Zürcher Stadtarchiv war aufwendig: Im Dossier 9578b der Amtsvormundschaft lagern fünf Schachteln mit 1700 Berichten und Belegen zum Fall «Friedrich Karl (Charles) Glauser», denn er hatte zeitlebens einen Vormund.
1917 ists, als Glauser diese Worte zu Papier bringt: «Lieber Vater, soeben erfahre ich, dass du gedenkst, mich unter Kuratel stellen zu lassen. (…) Ich begreife, dass du nichts mehr mit mir zu tun haben willst, habe jedoch noch eine letzte Bitte an dich. Würdest du so gut sein und mich ein letztes Mal mit dir sprechen lassen.» Die Entmündigung fällt notabene ins selbe Jahr, in dem die schillernde Dada-Szene um Emmy Hennings (1885–1948) und Hugo Ball (1886–1927) Glauser als einzigem Schweizer Autor für Auftritte das Wort erteilt.
Im Stadtarchiv stiess Baumberger erstmals auf die Gesprächsprotokolle der Vormundschaft. «Jedes Gespräch mit Glauser wurde notiert», sagt sie gegenüber dem SonntagsBlick Magazin, «so direkt und lebendig, dass man ihn fast sprechen hört und beim Lesen unmittelbar eintaucht in die Ereignisse.» Das klingt 1917 dann so: «Ich habe nicht bloss gebummelt, sondern mich litter. betätigt. (…) Ich bin ins Tessin eingeladen v. Hugo Ball in Magadino. Ich soll ihm an einer Übersetz. helfen.»
Es folgen Jahre in der französischen Fremdenlegion unter der sengenden Sonne Nordafrikas (von 1921 bis 1923) und untertags in stickigen Stollen des belgischen Bergbaus (1923 bis 1924). Ein Zimmerbrand nach einem Morphiumdelirium sorgt für den totalen Absturz – Glauser ist ganz unten und kommt in die Irrenanstalt von Tournai (Belgien). 1925 schafft ihn Belgien aus, und die Schweiz weist ihn ein in psychiatrische Anstalten.
Bloss Briefe als Kommunikationsmittel
Schon die Klinik Burghölzli in Zürich kam 1920 zum Schluss: «Glauser ist ein in unglücklichen Familienverhältnissen aufgewachsener willensschwacher, moralisch ungenügend entwickelter, zu liederlichem Leben neigender Mensch, mit über dem Durchschnitt stehender intellectueller Begabung und ausgesprochenem schriftstellerischem Talent.» Doch er bleibt entmündigt und gedemütigt.
«Briefe waren in dieser Abgeschlossenheit und zu einer Zeit, als das Telefon noch wenig Verbreitung hatte, praktisch das einzige Kommunikationsmittel», schreibt Baumberger im Nachwort zu ihrem Buch. «Briefe, so lässt sich ohne Pathos sagen, retteten Glauser vor dem Verstummen.» Und er schrieb viel: Allein im Literaturarchiv der Schweizerischen Nationalbibliothek in Bern befinden sich 507 Briefe des Schriftstellers.
«Glauser war unglaublich schillernd als Person», sagt Baumberger. «Er konnte mit tausend Zungen reden – mal schmeichelnd, fast unterwürfig bittend, dann wieder sehr fordernd, fast anmassend.» Neben dem hierarchischen Männernetzwerk von Vater, Vormunden und Psychiatern, in dem Glauser zeitlebens gefangen war, habe es ein zweites weibliches Netzwerk gegeben, in das er mindestens ebenso verstrickt war. «Er hat die schönsten Liebesbriefe geschrieben», so Baumberger.
Einen reizenden Einblick bietet das eben erschienene Büchlein «Du wirst heillos Geduld haben müssen mit mir» mit Liebesbriefen Glausers an neun verschiedene Frauen – von seiner ersten Liebe Elisabeth von Ruckteschell (1886–1963) über seine Förderin Martha Ringier (1874–1967) bis zu Berthe Bendel (1908–1986), die er schliesslich heiraten will: Die Ostschweizerin ist die wichtigste Frau in Glausers Leben.
«Liebes Mutschelgeissli», schreibt Glauser 1937 aus der «grossen Stürmi-Stadt Basel» an Bendel. Die Psychiatrieschwester lernte er 1933 in der Klinik Münsingen BE kennen und lieben. «Und lieb, lieb, sehr lieb hat dich dein Buebli, der ein Has ist und noch allerlei und allerhand», schreibt Glauser weiter. «Berthie, kleines, hab dich lieb u. Sehnsucht.» Da eine Beziehung zwischen Pflegerin und Patient unstatthaft ist, kündigt Bendel ihre Stelle und zieht mit Glauser zunächst nach Angles (F) an der Atlantikküste und später ans Mittelmeer nach Nervi (I).
«Unglaublich stark und emanzipiert für ihre Zeit»
«Für die Frauen rund um Glauser hat sich bisher niemand näher interessiert», sagt Baumberger, «dabei sind sie unglaublich stark und emanzipiert für ihre Zeit.» So beginnt Bendel in den 1930er-Jahren direkt mit dem Vormund zu verhandeln, weil sie vorantreiben will, dass die Vormundschaft aufgelöst wird. Ohne Erfolg zwar, doch gleichzeitig sorgt sie für den Durchbruch Glausers als Schriftsteller: Alle fünf «Wachtmeister Studer»-Romane – von «Schlumpf Erwin Mord» (1936) über «Matto regiert» (1937) bis «Der Chinese» (1939) – entstehen während ihrer Partnerschaft.
Doch Wachtmeister Studer, den Glauser in Anlehnung an George Simenons (1903–1989) Commissaire Maigret gestaltete, belastet den nun gerühmten Schriftsteller zusehends. Glauser will nicht «nur» als Krimiautor in die Annalen eingehen und schreibt in Nervi an drei Roman-Projekten gleichzeitig. «Mit Kriminalromanen fangen wir an um uns zu üben. Das Wichtige erscheint erst später.»
Das schreibt Friedrich Glauser am 1. Dezember 1938. Am 8. ist er tot – gestorben mit erst 42 Jahren nach einem Herzanfall am Vorabend der geplanten Hochzeit mit Berthe Bendel. Sie setzt sich bis zu ihrem Tod im Jahr 1986 mit Freunden für Glausers Werk ein. Und seit 1987 gibt es den deutschsprachigen Friedrich-Glauser-Preis für den besten Krimi, den schon namhafte Autorinnen und Autoren wie Bernhard Schlink (76), Ingrid Noll (85) oder Hansjörg Schneider (82) gewannen.
Baumberger wünscht sich für ihr neues Buch eine junge Generation, die darin schmökert und feststellt: «Das geht mich etwas an, das hat auch mit mir heute zu tun.» Denn bei Glauser gehe es ganz vital um das, was man heute Empowerment nenne: Selbstbestimmung und Strategien der Selbstermächtigung. «Das sind die Themen seiner Briefe», sagt Baumberger, «und es sind Fragen, die uns heute im Zuge der Corona-Pandemie im Innersten betreffen.»
Friedrich Glauser: «Jeder sucht sein Paradies …» Briefe, Berichte, Gespräche herausgegeben von Christa Baumberger, Limmat-Verlag
Buchvernissage online am 9. Februar, 19.30 Uhr, veranstaltet vom Literaturhaus Zürich: www.literaturhaus.ch/literaturhaus/veranstaltungen/online-jeder-sucht-sein-paradies-ein-abend-zu-friedrich-glauser-mit
Friedrich Glauser: «Du wirst heillos Geduld haben müssen mit mir», Liebesbriefe, Unionsverlag