Pol-Bo-Cüs. Diese drei Silben stehen für üppige Tafelfreuden; für eine Küche vor dem Eroberungszug der Kalorienzähler und Diätexperten. Der französische Meister ist Anfang dieses Jahres mit 91 gestorben – wie ist es um sein Erbe bestellt? Höchste Zeit für einen Augenschein.
Wir nehmen in Lyon (F) das Taxi und fahren flussaufwärts die Saône entlang. Ziel ist die Auberge du Pont de Collonges, das Lokal, von dem aus der junge Paul Bocuse seinen Weltruhm erlangte. Nach einer halben Stunde erscheint es im Dunkeln: ein grell beleuchtetes, bunt bemaltes Haus wie ein überdimensionales Zuckergebäck.
Die naturalistisch-kitschigen Bocuse-Porträts auf den Mauern lassen keine Zweifel: Hier steht der Besucher nicht vor irgendeinem Restaurant, sondern vor dem Tempel des heiligen Paul – oder, neuerdings, vor dessen Mausoleum. Am Eingang versammelt sich eine Gruppe kreischender Amerikaner.
Es handelt sich wohl um eine Geburtstagsgesellschaft. Wir sind nicht sicher, ob die mutmassliche Jubilarin eher ihren Dreissigsten, ihren Vierzigsten oder ihren Fünfzigsten feiert. Den heutigen Kosmopolitinnen sieht man das nicht mehr unbedingt an. Auch zwei junge, sehr chic gekleidete chinesische Paare haben den Weg hierhin gefunden. Sie schiessen eifrig Selfies.
Das Huhn ist hier noch etwas Besonderes
Nach einer freundlichen Begrüssung durch den Maître d’hôtel, Herrn Merlin, führt uns ein Garçon in den ersten Stock, wo wir wunderbar platziert werden; schlechte Tische gibt es hier, wie es sich in einem Etablissement dieser Preisklasse gehört, keine. Zuerst fällt das äusserst helle Raumlicht auf, wie ich es sonst in noch keinem Restaurant erlebte: Die Botox-Landschaft auf der Dame am übernächsten Tisch glänzt mindestens so stark wie die altrömisch inspirierten Statuen neben dem Kamin.
Sind wir schon im Jenseits? Wohl kaum – der Chef de Rang, Monsieur Aubert, ein leicht untersetzter Mann mit Schalkgesicht, der anders als die anderen Servicekräfte einen grauen und keinen schwarzen Anzug trägt, bringt uns die Speisekarte und fragt nach einem Wunsch für den Aperitif. Auf der Karte ist das Geflügel wie oft in Frankreich separat aufgeführt. «Les volailles» gelten hier als Visitenkarte des Hauses. Das ist schmuckes Zeugnis einer vergangenen Epoche, in der das Huhn auf dem Teller noch etwas Besonderes war, bevor die Lebensmittelindustrie es zur Massenware degradierte und Mövenpick-Gründer Ueli Prager die Schweiz mit Poulet im Chörbli beglückte.
Die Zutaten stammen alle aus Frankreich. Exotisches Gemüse sucht man vergeblich. Überraschend auch das jugendliche Alter im Haus: Köche, Kellner und die meisten Gäste könnten Enkel und Urenkel des verstorbenen Meisters sein, den ein Kritiker in der «Zeit» einmal als «Möbel vom Flohmarkt» betitelte. Mit meinem Hemd entpuppe ich mich rasch als Neuling; manche Touristen tragen gar Krawatte oder Fliege. Die Männer der gut betuchten weissen französischen Familien hingegen, die hier regelmässig zu verkehren scheinen, kommen in Jeans und Poloshirt. Das multikulturelle Frankreich mit seinen Ethnien der Ex-Kolonien ist hier ausschliesslich in der Küche und im Service anzutreffen.
Die Reise durch die Geschmackswelten beginnt. Zur Flûte Champagner, die wir uns zum Einstieg gönnen, kommt der mittlerweile Standard gewordene Gruss aus der Küche: ein mit getrüffelter Kartoffelcrème gefüllter Porzellanlöffel. Fürwahr nicht originell, aber comme il faut.
Als erster Höhepunkt wird meiner Begleitung eine unschlagbare Suppe vom bretonischen Hummer serviert. Der arme Kerl findet im Sud seines eigenen Panzers schwimmend und gekrönt mit Estragonschaum seinen Weg in unsere Mägen.
So französisch wie ein François-Truffaut-Film
Vor mir liegt ein glasiertes Stück Entenleber, das auf mich so gross wirkt wie ein Surfbrett. In Frankreich ist Foie gras von Gesetzes wegen nationales Kulturgut. Ich könnte jetzt also auch einen François-Truffaut-Film schauen oder eine Yves-Montand-Platte hören statt diese Delikatesse zu verspeisen. Ich ziehe den Gaumengenuss vor.
Das Irrste an diesem Abend spielt sich am Nebentisch ab. Dort haben die bereits erwähnten vier Chinesen Platz genommen. Es stellt sich heraus, dass sie kein Wort Englisch, geschweige denn Französisch sprechen. Gestikulierend bestellen sie den jeweils teuersten Gang aus dem Menü.Ich hätte wetten können, dass sie auch die We-Sche-Ö bestellt haben – bingo! Die Soupe V.G.E. ist Bocuse’ berühmtes Gericht, das er 1975 zu Ehren des damaligen Staatspräsidenten Valéry Giscard d’Estaing kreierte: Eine klare Brühe mit fein geschnittenem Gemüse, schwarzem Trüffel und Gänseleber, überbacken mit Blätterteig.
Die Episode lässt einen Bocuse’ Stellenwert in Frankreich nur erahnen. Beeindruckend sind der Koch und sein Imperium auch in Zahlen: Drei Michelin-Sterne während über 50 Jahren, mit 15 in der Résistance, zwölf Restaurants, 700 Angestellte, drei Bypässe, 50
Millionen Euro Jahresumsatz, drei Frauen (parallel!). Uns amüsiert, wie sich unsere Freunde aus dem Reich der Mitte durch den Teig auf der Suppenschüssel kämpfen, der den zwei Frauen sichtlichen Ekel bereitet. Von der Suppe schafft die eine einen halben Löffel. Die Männer sind etwas tapferer, aber geben ebenfalls rasch auf. Es ist bewundernswert, wie die Kellner eisern lächelnd die so gut wie ungegessene Speise sowie die vollen Gläser mit dem Kir Royal abräumen und auf Englisch fragen, ob es gut war.
Es folgen für mich Jakobsmuscheln mit dem perfekten Röstgrad und einer speziellen Begleitung: Pommes soufflées. Kartoffelscheiben werden so zubereitet, dass sie sich beim Frittieren aufblähen. Resultat sind luftige Kissen. Die Dinger liegen auf einem Spinatwürfel – es sollte die einzige grüne Zutat sein, die wir diesen Abend vor uns haben werden. Jede Wüste auf diesem Planeten hat mehr Grün als ein Mehrgänger von Bocuse. Danach soll eine Kugel Granité des vignerons unseren Verdauungsapparat kühlen.
Das ist eine Art Rotweinsorbet. Ich habe keine Ahnung, wie die Köche das feine Beaujolais-Aroma in die Eismasse gebracht haben, aber es schmeckt grossartig. Als Hauptgang habe ich Kalbsmilken bestellt. Das ist ein Drüsenorgan der Jungtiere, das vor der Zubereitung gewässert und gesäubert werden muss, dafür dann aber einen umso zarteren Geschmack entfaltet. Sie werden in einer traditionellen Sauce ivoire und Morcheln serviert. Ein Genuss, die Milke könnte nicht perfekter sein, aber die butterig-schwere Elfenbein-Sauce provoziert dann allmählich ersten Widerstand meines Körpers.
Hungernde Lumpenkinder und elitäres Kalorienbolzen
Für meine Partnerin gibt es einen Klassiker: Filet de bœuf Rossini: ein Rindsfilet mit einer Scheibe Gänseleber und schwarzem Trüffel. Es wird begleitet von einer dunklen Weinreduktion. Namensgeber dieses Gerichts ist der italienische Komponist Gioachino Rossini. Im 19. Jahrhundert war er ein europäischer Superstar und nimmersatter Bonvivant. Während Charles Dickens Englands hungernde Lumpenkinder in der Weltliteratur verewigte, ass sich der fette Belcanto-Gott Rossini durch die Metropolen des Kontinents. Zur Zeit des Frühkapitalismus galt die Kalorienbolzerei noch als Etikette der Elite.
Neben dem «Barbier von Sevilla» ist das Filet Rossini vielleicht das populärste Vermächtnis des Italieners. Und wo immer es heute aufgetischt wird, gilt: Hier isst der Bourgeois, nicht der Citoyen.
Mittlerweile sind auch die Chinesen beim Hauptgang angelangt. Die Männer haben ebenfalls ein Filet Rossini bestellt, die Damen teilen sich einen anderen Klassiker des Hauses, einen Wolfsbarsch im Blätterteig. Als der Kellner den Fisch tranchiert, stehen die vier Gäste auf und zücken ihre Handys: Jede Bewegung der Bedienung, die äusserst routiniert das Tier zerlegt, wird auf Fotos festgehalten. Das ist bestes Material für Instagram!
Auch diese Runde wandert praktisch unverspeist in die Küche zurück – die Chinesen haben offenbar Mühe mit dieser Art Nahrungsmitteln. Zuzusehen, wie diese Gerichte, in denen hervorragende Produkte, Sorgfalt und Handwerk stecken, einfach retourniert werden, lässt das Geniesserherz bluten. Hier wird gerade für alle sichtbar ein Akt der Wohlstandsverwahrlosung vollzogen.
Aber vielleicht sind wir unfair mit den Asiaten. Ich muss gestehen, dass ich in einem traditionellen Restaurant in Shanghai einmal einen Teller mit etwas Blubberndem darauf unberührt stehen liess. Vielleicht hätte ein Einheimischer darauf ebenso reagiert wie ich jetzt auf die Chinesen.
Gegen das Foodwaste-Problem sind in vielen Ländern, ausgehend von Amerika, Initiativen entstanden. Der Verein Foodwaste.ch zitiert Studien, laut denen in der Schweiz ein Drittel aller produzierten Lebensmittel nie gegessen wird. Das entsprich laut der Organisation jährlich etwa zwei Millionen Tonnen Nahrungsmittel.
Eine Flasche Burgunder für 15'000 Dollar
Wir trinken lieber noch etwas vom Wein. «C’est dangereux!», hatte uns der Sommelier Monsieur Rouget gewarnt, der etwa denselben Jahrgang hat wie die ältesten Flaschen, die er pflegt. Er wusste warum; der Volnay Premier Cru 2010 ist etwas für Pinot-noir-Liebhaber oder für jene, die es werden wollen.
Für Burgunderweine muss der Konsument allerdings etwas springen lassen: Tropfen aus durchschnittlichen Lagen kosten rasch zwei- bis dreihundert Euro. Das ist letztlich ein Wahnsinn, den die Globalisierung möglich gemacht hat: Der technische Fortschritt hat Handel und Geschäftsprozesse massiv beschleunigt, wodurch Bordeaux und Burgunder der weltweiten Spekulation ausgesetzt worden sind. Eine Flasche der Burgunder-Lage Romanée-Conti kostet im Schnitt 15'000 Dollar. Ich frage mich, wie ein Schluck Wein wohl schmeckt, der 200 Dollar kostet.
Oder wie es sich anfühlt, wenn man den Inhalt eines Weinglases, der über 2000 Dollar wert ist, versehentlich auf den Teppich schüttet.
Jetzt begehe ich den stümperhaftesten Anfängerfehler: Der Wagen mit dem Käse wird angerollt. Die französischen Superstinker betören mich derart, dass ich zugreife, bis mein Teller mit den Milcherzeugnissen bedeckt ist: Epoisses, Beaufort, Langres, Mimolette, Roquefort, Neufchâtel. Die Kerle, die Namen tragen wie Figuren eines Erotikromans, stürzen meinen Magen ins Elend.
Nach dem Käse- wird der noch viel grössere Süssspeisenwagen herbeigefahren. Auf dem hölzernen Gefährt erstreckt sich ein Gelände aus sämtlichen Sünden, die sich die europäische Confiseriekunst ausgedacht hat. Meine Begleitung war cleverer als ich und kneifte beim Käse. Jetzt stürzt sie sich triumphierend auf Törtchen, Glace und Macarons.
Irgendwie wohnt diesem Dessertmobil ein Zauber inne: Es gibt nur einen Wagen auf diesem Stock, und trotzdem erscheint er stets rechtzeitig an den einzelnen Tischen. Uns treibt noch eine Frage um: Wir haben im Paul-Bocuse-Restaurant mit Paul-Bocuse-Messer und Paul-Bocuse-Gabel aus einem Paul-Bocuse-Teller gegessen und aus einem Paul-Bocuse-Glas getrunken. Paul Bocuse aber ist seit kurzen tot.
«Er ist doch immer noch da»
Im ganzen Haus kein Hinweis auf das Ableben des Impresarios, kein schwarz gerahmtes Bild, kein Trauerflor. «Er ist doch immer noch da», lacht Herr Aubert, unser Chef de Rang, und verweist auf eines der Wandgemälde, das Bocuse zwischen seinen Kupferpfannen zeigt.
Der Todesfall macht für die Belegschaft im Alltag kaum einen Unterschied: Seit den Neunzigerjahren leitet ein dreiköpfiges Team die Küche. «Monsieur Paul war wie ein Grossvater für uns», sagte Chri-stophe Muller einer der Küchenchefs, in einer TV-Reportage. Jetzt ist Opa gegangen. Sein Erbe aber lebt aller kulinarischer Moden zum Trotz, wie auch Rossini-Opern und Dickens-Bücher noch heute leben.
Vor dem Haus posieren die vier Chinesen mit leerem Bauch für ein Erinnerungsfoto. Der Portier fragt sie auf Englisch, ob sie bald wiederkommen werden. Sie lachen und nicken.