Stararchitekt Santiago Calatrava im grossen Interview
«Wir dürfen nicht mehr nach Rezepten bauen»

Der spanisch-schweizerische Stararchitekt Santiago Calatrava (65) über sein geplantes Axa-Gebäude in Zürich, sein weltweit höchstes Gebäude in Dubai und seine Premiere in London.
Publiziert: 28.04.2017 um 17:23 Uhr
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Aktualisiert: 12.09.2018 um 00:35 Uhr
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«Ich spürte die klare Verbindung zwischen der Architektur und meinen Skulpturen»: Santiago Calatrava schaut durch eine -Eisenplastik in seinem Haus am Zürichsee.
Foto: Daniel Kellenberger
Daniel Arnet

BLICK: Herr Calatrava, hier in Zürich müssen Sie sich wohl fühlen.
Santiago Calatrava:
Weshalb meinen Sie?

Ein gebürtiger Löwe in der Löwenstadt.
Ja, das ist interessant – ich war mir dessen nicht bewusst, als ich hierher gekommen bin. In der Stadt fühle ich mich tatsächlich seit Jahrzehnten heimisch.

Dort studierten Sie an der ETH, dort vollendeten Sie mit dem Bahnhof Stadelhofen Ihr erstes grosses Bauwerk.
Seither habe ich viel gelernt – aber noch immer wunderbare Erinnerungen daran.

Nun haben Sie sich gleich neben dem Bahnhof ein neues Projekt gekrallt. Sind Sie ein kämpferischer Löwe?
Ich bin in der ersten Dekade des Sternzeichens geboren, also ein ganz zahmer Löwe.

Aber Sie zeigen Biss: Ihr Prestigebau für die Axa-Versicherung verschlingt ein altes Zürcher Café, das Mandarin. Manche nennen Ihr Projekt ein Kreuzfahrtschiff. Ist es überdimensioniert?
Im Gegenteil, wir treten sogar Bauland ab: Heute ist der Abstand zwischen dem Café und der nahen Fussgängerbrücke 1,8 Meter, bei unserem Gebäude werden es elf Meter sein. Dadurch wird die Brücke zum Zentrum, und es entsteht ein zusätzlicher, neuer Platz – ein würdiger Bahnhofseingang, den es bis heute nicht gibt.

Trotzdem wirkt das Projekt wie ein Solitär, wie ein Schmuckstück, das herausstechen will.
Ich will ein Gebäude schaffen, das materialmässig in die Stadt passt. Es ist weniger eines, das für sich steht, denn es nimmt die Stahlkonstruktion des Vordaches vom Bahnhof Stadelhofen auf.

Den Calatrava erkennt man aber sofort. Ist das Ihnen wichtig?
Wenn ich zum Beispiel eine Kirche von Karl Moser sehe wie die St. Antonius in Basel oder seinen Badischen Bahnhof dort, dann erkenne ich seine Handschrift. Es ist also nicht neu, dass ein Architekt eine gewisse Formensprache hat. Dasselbe trifft auf Gustav Gull zu, der in Zürich das Landesmuseum und das Stadthaus gebaut hat. Oder in neuerer Zeit auf Theo Hotz, der den Bahnhof Aarau oder die Messehallen in Basel gebaut hat.

Täuscht der Eindruck oder ist die Architektur heute weltweit uniformer?
Das ist ein Problem. Einmal bin ich von Zürich nach Freiburg gefahren, und da habe ich mit meinem Begleiter über die Hochhäuser gesprochen, die wir auf dem Weg gesehen haben – die sind alle gleich.

Und abgesehen von den Hochhäusern?
Die Bauernhöfe sind von Region zu Region unterschiedlich. Wenn Sie an die massiven Berner Häuser denken, und dann gehen Sie nach Luzern – die sehen völlig anders aus. Und im Wallis sieht es nochmals anders aus, obwohl man dieselben Materialen verwendet.

Warum ist diese Formenvielfalt verloren gegangen?
Das hat mit Doktrinen des 20. Jahrhunderts zu tun. Reihe Fenster an Fenster, und du bist ein modischer Kerl. Und die Industrie applaudiert, weil sie viel Beton verarbeiten kann. Und die Fensterhersteller sind zufrieden, weil sie überall dasselbe Fenster verkaufen können. Diese Doktrinen müssen wir wegschmeissen – die sind nicht gut. Wir dürfen nicht mehr nach Rezepten bauen, sonst stagniert die Kunst des Bauens.

Was ist zu tun?
Die Hochschulen wären eigentlich dafür da, neue Ideen zu entwickeln. Aber wenn man heute die Absolventen sieht, ist es schwer, etwas Neues zu erkennen.

Werden die Architekten heute falsch ausgebildet?
Eine gute Frage. Ich habe lange studiert – 14 Jahre. Ich habe das gerne gemacht und viel gelernt. Während des Studiums an der ETH habe ich gemerkt: Architektur ist eine Kunst. Moser ist für mich ein grosser Künstler, Le Corbusier ein gerissener Künstler.

Sie selber kommen ja auch von der Kunst her.
Ja, ich habe an einer Kunstschule angefangen. Und die allererste Skulpturenausstellung hatte ich hier in Zürich in einer Galerie – ich war 33, 34. Damals spürte ich die klare Verbindung zwischen der Architektur und meinen Skulpturen. Meine Arbeiten als Bildhauer waren das, was Le Corbusier «L’atelier de la recherche patiente» genannt hat, die Werkstatt der geduldigen Nachforschungen.

Verstehen sich Ihre Berufskollegen heute zu wenig als Künstler?
Die Architekten übernehmen zu viele Elemente voneinander und verfolgen sie bis zur Ermüdung weiter. Und jene, die die schönen Bauernhöfen in Konolfingen erbauten, sahen sich nicht als Künstler – sie hatten bloss ein grosses Verständnis für das Bauhandwerk.

Gutes Handwerk schafft also automatisch Kunst.
Ja, man darf das Künstlerische nicht entbunden von der Technik betrachten. Die Griechen haben die Technik technikos genannt, den Handwerker technitis und die Kunst téchne –  da sieht man die Verwandtschaft der Begriffe. Das perfekt Technische kann zu einem Kunstwerk erkoren werden, wenn es beim Betrachter eine Empfindung auslöst.

Welche Empfindung wollen Sie mit Ihren Bauten auslösen?
Wenn zum Beispiel Pendler in meine Bahnhöfe kommen, sollen sie erhoben werden. Manche kommen vielleicht von einer bescheidenen Wohnung und gehen zu einer bescheidenen Arbeitsstelle – für die baue ich meine Bahnhöfe, damit sie sich auf dem Weg besser fühlen. Dann sind sie auch bessere Sozialwesen und glauben an die Gemeinschaft.

Wollen Sie primär Zeitgenossen dienen oder für spätere Generationen stilprägend sein?
Selbst wenn ich nicht stilprägend sein wollte: Bauten überleben den Erbauer. Sie bleiben Zeugen unserer Zeit.

Zeugnisse, mit denen Sie auch die Konkurrenz beeindrucken wollen: In Dubai planen Sie das höchste Gebäude der Welt.
Wir haben einen Bauherrn mit sehr grossen Ambitionen, und wir arbeiten hart daran, diesen Ambitionen gerecht zu werden.

Wann wird der Bau fertig sein?
Eigentlich sollte er für die Weltausstellung Expo 2020 stehen. Wir geben uns Mühe, aber primär wollen wir ein schönes Gebäude bauen.

Um die Höhe macht man ein Geheimnis. Wie hoch soll es werden?
Der Bauherr hat angekündigt, dass es noch höher als der 826 Meter hohe Burj Khalifa sein soll.

Bald ein Kilometer in die Höhe. Wann sind die Grenzen erreicht?
Bei den Liften sind wir schon am Limit. Aber bedenken Sie, dass das Flatiron Building in New York von 1902 mit seinen 91 Metern einst das höchste Gebäude der Welt war.

Ihr Kollege Jacques Herzog sagte kürzlich, dass Tunnels wichtiger seien als Hochhäuser.
Es war nicht immer so. Die Teufelsbrücke am Gotthard, die Salginatobelbrücke in Schiers, die Türme von Schloss Lenzburg oder Le Château de Chillon machen schöne Landschaften zu legendären Plätzen.

Der erste Calatrava-Tunnel lässt also auf sich warten, dafür erleben wir demnächst eine Premiere in London: Dort entsteht Ihre erste Überbauung in Grossbritannien.
Ja, dort, wo die Themse bei der Canary Wharf eine markante Kurve macht und die Halbinsel Greenwich Peninsula bildet. Dort hat der Bauherr ein Problem.

Welches?
Es geht darum, eine Überbauung für 30000 Menschen zu bauen. Da braucht es einen Bahnhof – davon habe ich schon viele gebaut; da braucht es Brücken – davon habe ich Dutzende erstellt. 80 Prozent meiner Werke sind öffentliche Bauten. Der Bauherr merkte: Dieser Mann kann uns helfen. Wir gestalten auch die Uferpromenaden und einen Park.

Interessieren Sie vor allem grosse Bauvorhaben?
Nein. Eines meiner letzten Projekte war eine kleine Fussgängerbrücke von bloss 15 Metern über die Lorze im zugerischen Cham – aber ich war enorm interessiert. Ich war so froh, in der Schweiz eine Brücke bauen zu können. Nun wird sie nicht gebaut – ich verstehe nicht warum.

In der Schweiz sind Sie schon einmal mit einer Brücke gescheitert: Ihr Projekt der Wettsteinbrücke in Basel fiel 1990 an der Urne durch.
Ich wurde damals von einer kleinen Basler Gruppe angefragt, ob ich einen Vorschlag für eine neue Brücke über den Rhein machen wolle – damals hatte ich noch nicht viele Brücken erstellt.

Waren Sie enttäuscht über das Volks-Nein?
Nicht für mich, aber für das private Komitee, das mich unterstützt hatte. Aber das Leben ist weitergegangen, und ich habe inzwischen dreissig Brücken erstellt. Wenn Sie Wettbewerbe machen, lernen Sie etwas: zu verlieren.

Fragt man Sie heute für Bauvorhaben direkt an oder beteiligen Sie sich nach wie vor an Architektur-Wettbewerben?
Ich habe mich an bis zu 130 Wettbewerben beteiligt – ich finde das immer noch eine gute Schule. Manchmal habe ich Wettbewerbe verpasst, so etwa den für den Erweiterungsbau des Kunsthauses in Zürich. Da hätte ich gerne teilgenommen.

Was halten Sie vom Siegerprojekt von David Chipperfield?
Ich kenne es nicht, aber der Architekt hat eine grosse Erfahrung – das wird bestimmt eine tolle Sache.

Sie sind 65 – in dem Alter geht man in der Schweiz in Pension. Werden Sie sich nun zur Ruhe setzen?
Ich habe mir die Rente aufs Mal auszahlen lassen – und gleich einer Schule weitergegeben. Ich will so lange arbeiten, wie ich kann.

In der Schweiz studiert

Santiago Calatrava Valls ist Spross eines spanischen Adelsgeschlechts und kommt 1951 in Valencia zur Welt. Dort studiert er an der Escuela Técnica Superior de Arquitectura mit einem Nachdiplomstudium in Urbanistik. Ende der 1970er-Jahre widmet sich Calatrava dem Bauingenieurwesen an der ETH Zürich und schliesst 1981 mit einer -Doktorarbeit ab. Seither sind Dutzende Ehrendoktorwürden dazu-gekommen. Calatrava ist verheiratet, hat drei erwachsene Söhne und eine Tochter und lebt abwechselnd in Zürich und New York.

Santiago Calatrava Valls ist Spross eines spanischen Adelsgeschlechts und kommt 1951 in Valencia zur Welt. Dort studiert er an der Escuela Técnica Superior de Arquitectura mit einem Nachdiplomstudium in Urbanistik. Ende der 1970er-Jahre widmet sich Calatrava dem Bauingenieurwesen an der ETH Zürich und schliesst 1981 mit einer -Doktorarbeit ab. Seither sind Dutzende Ehrendoktorwürden dazu-gekommen. Calatrava ist verheiratet, hat drei erwachsene Söhne und eine Tochter und lebt abwechselnd in Zürich und New York.

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