«Ich finde diese Wohnform genial und fühle mich hier zu Hause», erzählt Nicola Rupf (23), nachdem er Getränke auf der Terrasse aufgetischt hat. Seit Anfang Juni wohnt der junge Physik-Student etwas ausserhalb der Stadt Zürich mit Hans Trentini (90) in einer Fünfeinhalbzimmer-Terrassenwohnung.
Die Eigentumswohnung gehört Trentini. Hier lebte er seit 2002 mit seiner 2021 verstorbenen Ehefrau. Über 71 Jahre waren die beiden ein Paar, haben zwei Kinder grossgezogen und sind Grosseltern und Ur-Grosseltern.
Der Tod seiner geliebten Ehefrau stürzte den pensionierten Ingenieur in eine Lebenskrise. «Ich gammelte nur noch vor mich hin, ass nicht mehr richtig und sass oft nur noch im Bademantel allein in meiner Wohnung. Bis ich mich aufrappelte und merkte, dass sich etwas ändern muss», sagt der belesene und viel gereiste Senior.
Aus Fremden wurden Freunde
Statt Totenstille herrscht bei Trentini wieder Leben in der Wohnung. Im 20 Quadratmeter grossen Schlafzimmer mit Bad en suite ist der ETH-Student Nicola Rupf aus dem Kanton Graubünden eingezogen.
Tipp von der Enkelin
Den Tipp für die generationenübergreifende WG und das Projekt «Wohnen für Hilfe» der Pro Senectute Zürich, bekam Trentini bei einem Gespräch mit seiner Tochter und einer seiner Enkelinnen. Statt Miete erhalten die an dem Projekt teilnehmenden Renterinnen und Rentner Unterstützungsleistungen von ihren Mitbewohnern.
Trentini macht seine erste positive Erfahrung mit «Wohnen für Hilfe» mit einer angehenden Lehrerin, die während 1½ Jahren bei ihm wohnte, bevor sie zu ihrem Freund zog. Die beiden verbindet bis heute eine Freundschaft. «Ich war erst gerade mit ihr und ihrem Partner auf einer Flussfahrt», so Hans Trentini.
Nicola Rupf lebte mit seiner Cousine und einem Studenten in einer WG in Zürich Schwamendingen. «Es war unklar, wie es mit der WG weitergehen wird. Darum wollte ich mich frühzeitig um eine passende Alternative kümmern und wurde im Internet auf das Projekt von Pro Senectute aufmerksam», so der Student. Wie Trentini hat auch er den entsprechenden Fragebogen mit Präferenzen für passende Wohnpartner und Wohnsituation ausgefüllt.
Erster Besuch mit Begleitung
Kurz darauf wurden beide Männer von der Projekt-Koordinatorin Andrea Ziegler, kontaktiert und informiert, dass eine passende Person für eine Wohngemeinschaft gefunden wurde. Nicola Rupf stattete mit Andrea Ziegler einen Besuch mit Wohnungsbesichtigung bei Hans Trentini ab.
«Mir war der junge Mann auf Anhieb symphatisch», sagt der Senior. Gleich erging es dem Studenten, der aber vor seiner Entscheidung noch den Weg zur ETH mit dem ÖV testen wollte. «Seine Reaktion zeigt mir, dass Nicola ein überlegter und vernünftiger junger Mann ist», so der Witwer. Nach einem weiteren Telefonat waren sich die beiden Männer einig, dass sie als Wohnpartner passen und haben einen Miet- und Arbeitsvertrag unterzeichnet.
Statt Miete für seine Unterkunft zu bezahlen, müsste Rupf nach Quadratmetern seiner Zimmergrösse berechnet, etwa 16 Stunden Arbeit für den Senior leisten. «Ich brauche aber gar keine Hilfe. Ich kaufe selber ein, habe einen privaten Koch und zwei Reinigungsfrauen. Für mich geht es nur um den sozialen Kontakt durch die Wohngemeinschaft», sagt der rüstige 90-Jährige, der sogar die AHV für den Studenten übernimmt.
Voraussetzungen für ein gutes Zusammenleben
Einen Ämtliplan und Regeln gibt es im Haushalt von Rupf und Trentini nicht. «Das war mir zuerst etwas unangenehm, wenn ich gar keine Arbeiten erledigen muss, aber wir haben von Anfang an vereinbart, dass wir beide offen und ehrlich ansprechen, wenn etwas nicht gut ist», sagt Nicola Rupf.
Offenheit und Vertrauen sei eine Voraussetzung, damit das Zusammenleben funktioniert, findet auch Trentini und ergänzt: «Ich habe mit meiner Wohnung zudem optimale räumliche Voraussetzungen, damit wir beide noch genug Privatsphäre haben. Mein Badezimmer möchte ich für mich allein.»
Neben dem eigenen Bad- und Schlafzimmer hat er auch sein eigenes Büro. Küche, Wohn- und Esszimmer wird von beiden genutzt. Auch Besucher und Rupfs Freundin sind beim geselligen Senior willkommen. «Natürlich darf Nicolas Freundin auch hier übernachten. Ich war doch auch mal jung», sagt Trentini lachend und Rupf lacht mit.
Die beiden verstehen sich prächtig, scherzen und lachen viel, auch beim Besuch von Blick. «Wir führen aber auch tiefgründige Gespräche über alles Mögliche», sagt der Senior. Der Umgang der beiden Männer ist herzlich, respektvoll und wertschätzend. Sie sind sich einig, dass diese Wohnform eine Win-win-Situation ist. Nicht zuletzt angesichts der angespannten Situation auf dem Wohnungsmarkt, wo es an bezahlbarem Wohnraum mangelt.
Zunahme der Suchanfragen
Eine entsprechende Zunahme an Anfragen für das generationenverbindende Wohnprojekt von Pro Senectute Kanton Zürich bestätigt die Sozialarbeiterin und Projekt-Koordinatorin Andrea Ziegler: «Wir haben wesentlich mehr Anfragen von Studierenden. Es sind aber nicht alle vermittelbar, da sich einige doch nicht bewusst sind, dass sie eine Arbeit als Gegenleistung erbringen müssen.»
Ziegler erhofft sich noch mehr Anfragen von Seniorinnen und Senioren. «Wenn wir wie bei dieser Wohngemeinschaft eine gute Vermittlung machen können, ist es für beide Seiten ein Gewinn», so Ziegler.
Jung und Alt profitieren
Trentini hat Wohnraum, den er zur Verfügung stellt, Rupf investiert dafür einen Teil seiner Zeit neben seinem Studium und unternimmt mit dem Witwer auch Ausflüge, hütet seine Katze bei Ferienabwesenheit und ist interessierter und interessanter Gesprächspartner.
Nicola Rupf: «Ich kann von Hans und seiner Lebenserfahrung viel profitieren. Sei dies aus seiner beruflichen Tätigkeit, oder aus seinen Erfahrungen mit anderen Kulturen, die er auf seinen Reisen oder beruflichen Auslandsaufenthalten mit der Familie gesammelt hat.»
Die Reisen und das Leben in anderen Ländern und Kulturen, seien wohl mitunter Gründe, warum er trotz hohem Alter noch sehr offen im Denken sei, was ihm jetzt das neue WG-Leben erleichtert, mutmasst der 90-Jährige. Auch er hat durch die jungen Mitbewohner noch einiges gelernt. «Mir und meiner Familie ging es finanziell immer gut. Erst im hohen Alter und nach Gesprächen mit jungen Personen, sehe und schätze ich viel mehr, dass das nicht selbstverständlich ist und mit welchen Herausforderungen viele jungen Menschen heute konfrontiert sind», sagt Trentini.
Statt Einsamkeit wieder Lebensfreude
Läuft alles wie geplant, kann Rupf noch bis zum Ende seines Studiums bei Trentini wohnen bleiben. Auch wenn der Student regelmässige Freunde und Familie im Bündnerland besucht, Ferien macht oder abends später von der ETH kommt, das Alleinsein ist für den Witwer kein Problem.
Einsam fühlt er sich nicht mehr, auch wenn seine verstorbene Ehefrau eine grosse Lücke hinterlassen hat. «Es tut mir gut zu wissen, dass jemand heimkommt. Mit Nicola ist wieder Lachen und Leben bei mir zu Hause eingezogen.»